Meschede. Über früh verstorbene Kinder zu sprechen ist ein Tabu - erst recht sie zu fotografieren. Benjamin Köhler aus Meschede erklärt, warum er das macht.

„Wir fotografieren nicht den Tod, wir fotografieren sehnlichst erwartetes Leben.“ Birgit Walther-Lüers

Erst die Hoffnung, dann die Freude, dass da ein kleiner Mensch heranwächst - und dann der Absturz, die tiefe Trauer. Wenn Eltern ihr Kind während der Schwangerschaft verlieren, dann sind sie im Ausnahmezustand. Wer denkt dann schon daran, dass man sich mal an diesen Moment, an dieses Kind, an seine Ohren, die feinen Finger und die geschlossenen Augen erinnern will? Das Projekt „Dein Sternenkind“ tut das und schickt Menschen wie Benjamin Köhler auf den Weg. Allein im Juli wurden deutschlandweit 246 „Sternchen“ fotografiert.

Der 29-Jährige Mescheder ist Hobby-Fotograf, hauptberuflich arbeitet er für die Caritas im Technischen Dienst, ist gelernter Anlagenmechaniker. „Eigentlich habe ich begonnen zu fotografieren, als mein Sohn auf die Welt kam. Babys haben nichts gekünsteltes“, findet er. Daneben fotografierte er Landschaften, machte Makro-Aufnahmen, ging also nah ran ans Motiv und hielt Lost Places fest, verlassene Orte. Über dieses Hobby hatte er damals auch in unserer Zeitung berichtet.

Als er auf einen Bericht über Sternenkinder am TV stieß, fragte er sich, „was die Eltern machen, wenn die Erinnerungen verblassen.“ Durch das Internet erfuhr er später von „Dein Sternenkind“. Ehrenamtlich fotografieren dort Menschen die früh verstorbenen Kinder, machen Fotos, damit sich Eltern und Geschwister erinnern können. Benjamin Köhler hat lange mit sich gehadert, ob er sich dem Projekt anschließen will. Der Hobby-Fotograf ist selbst Vater von zwei Kindern, hat einen achtjährigen Sohn und eine acht Monate alte Tochter.

Benjamin Köhler fotografiert Sternenkinder.
Benjamin Köhler fotografiert Sternenkinder. © Privat

Ein Jahr mit dem Thema gehadert

„Ein Jahr habe ich darüber nachgedacht, ob ich das kann, tote Säuglinge fotografieren.“ Vor allem mit seiner Mutter habe er viel darüber geredet. „Überleg’ dir das gut“, habe sie ihn gewarnt. „Meine Freundin war gerade mit unserer Tochter schwanger. Für sie war das ein zu belastendes Thema.“ Schließlich füllte er die Bewerbung aus und erstellte ein Portofolio mit seinen Aufnahmen und wurde angenommen. Jetzt nach den ersten Aufträgen weiß er, was er vorher nur ahnte: „Das ist eine wichtige Aufgabe: Sie erfüllt mich.“

In der 22 und 25. Woche waren die beiden Babys, die er in Lippstadt fotografiert hat. „Mit dem ersten war ich ganz allein, der Mutter ging es schlecht, der Vater ist rausgestürmt, als ich gekommen bin.“ Unterhalten konnte er sich nicht. Auf Russisch unterschrieb die Mutter die Einwilligungserklärung.

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Die Hebammen der Kinderkliniken kennen meist das Projekt, informieren die Eltern über das kostenlose Angebot und melden eine Foto-Anfrage auf der Seite „Dein Sternenkind“. 650 Fotografen in Deutschland, in Österreich und in der deutschsprachigen Schweiz sind für das Projekt ehrenamtlich im Einsatz. 17 Männer und Frauen koordinieren die Einsätze. „Wir bekommen alle kein Geld, nur die Arbeitsmaterialien, also DVDs und USB-Sticks, um die Bilder zuschicken zu können und Kleidchen und Einstecktücher, die von ehrenamtlichen Näherinnen gefertigt werden.“ In Lippstadt dürfen die Fotografen zudem kostenlos parken.

Allein mit dem Baby ließ sich Benjamin Köhler Zeit. „Ich lasse es erst auf mich wirken, gucke mir das Kind an und fotografiere es dann am liebsten so, dass es aussieht, als ob es schläft.“ Auch Nahaufnahmen von den Händen, den Füßen, den Ohren macht er. „Details, die man doch sonst vergisst.“ Fotos, die Eltern auch gern von Ihren gesunden Neugeborenen machen. Ein sehr emotionaler Moment für den jungen Vater. „Doch so traurig das alles ist, sobald ich die Kamera hochnehme, bekomme ich eine professionelle Distanz.“

Da den Eltern meist noch Kleidung oder Einschlagtücher fehlen, bringt er sie mit. Auch einen Notfallkoffer und ein Hinweis-Schild: Fotograf im Einsatz hat er immer dabei.
Da den Eltern meist noch Kleidung oder Einschlagtücher fehlen, bringt er sie mit. Auch einen Notfallkoffer und ein Hinweis-Schild: Fotograf im Einsatz hat er immer dabei. © Benjamin Köhler

Alarm App informiert Fotografen

Informiert werden die Fotografen über eine Alarm-App. „Die ist ziemlich durchdringen und lässt sich nicht ignorieren.“ Darin erfährt man, wo der Einsatz ist, wie alt das Kind war und ob die Eltern mit aufs Bild wollen. Im Chatroom klären die Fotografen, wer von ihnen zu dem Einsatz fährt, weil er gerade Zeit hat oder in der Nähe ist. Auch wer im Anschluss Unterstützung braucht, findet sie über das Forum. Denn die Einsätze können schon sehr belastend sein. Köhler: „Darauf ist man null vorbereitet.“

Beim zweiten Lippstädter Baby sind beide Eltern dabei. „Ich wurde herzlich begrüßt, fast wie ein alter Freund“. Die Eltern hatten ihren Sohn nach einem vorzeitigen Blasensprung verloren. Die Augen geschlossen, die Finger weggespreizt, wie Babys schlafen, wenn sie träumen. Benjamin Köhler klärt die Formalien und fotografiert die Eltern mit dem Baby, den Jungen allein und im Arm seiner Mutter. Man spürt die große Trauer und die Innigkeit der Eltern.

Die Eltern erhalten die Bilder und entscheiden, wann sie sich sie ansehen. Auf dem Server von „Dein Sternenkind“ werden sie zudem archiviert, „falls sie mal verloren gehen.“ Benjamin Köhler findet es wichtig, dass alle Eltern wissen, dass es so ein kostenloses Angebot für sie gibt. „Ich glaube, das hilft auch bei der Trauerbewältigung.“ Und er weiß: „Früh verstorbene Kinder - das ist immer noch ein Tabu-Thema, das ich gern brechen würde.“

Dein Sternenkind ist Preisträger des Deutschen Engagementpreises 2017. Weitere Informationen unter www.dein-sternenkind.eu

HINTERGRUND

Die Organisatoren von Dein Sternenkind schreiben, warum die Bilder wertvoll sind.

als Zeugnis für die Existenz – oder auch den Tod – des kleinen Menschen

als Zeugnis Eltern zu sein

als Stütze für die verblassende, optische Erinnerung

als Hilfe, um die Trauer mit anderen teilen zu können

als vielleicht einzige Erinnerung für die Familie und Freunde

als Bestätigung, dass das Kind zur Familie gehört

als Beweis für die Liebe zum Kind

als Illustration der Geschichte des Kindes und der Geschichte der Familie

als Verbindung von Erinnerungen und Gefühlen