Berge. Vor vier Jahren wird ein Mann von einem Baum erschlagen. Die Angehörigen wollen mit Mythen aufräumen und Ruhe finden.
Die Strecke liegt im Grünen. Der Wind bläst leicht, die Vögel zwitschern. Es ist idyllisch hier. So wie im Juli 2014. Bis ein Baum umstürzt. Und einen Radfahrer erschlägt.
Im Büro von Rechtsanwalt Bernhard Kraas liegen vier dicke Akten auf dem Tisch. Sie handeln von diesem Schicksal am Sauerland-Radring. Kraas hat den Fall im Namen der Hinterbliebenen bis zum Oberlandesgericht nach Hamm begleitet. Dort hat der Senat jetzt einen Vergleich angeregt, das Land Nordrhein-Westfalen soll 70 000 Euro an die Familie des Toten zahlen.
Nach vier Jahren könnte sie zur Ruhe kommen. Kann sie das?
„Nach diesem Prozess wissen wir umso mehr, dass dieser Tod vermeidbar war“, sagt der Sohn der Familie. „Ja, vielleicht kehrt nun Ruhe ein, aber mir wäre es viel lieber, wir könnten wie früher gemeinsam zum Schützenfest gehen und ein Bier trinken.“ Doch es geht nur noch um den juristischen Abschluss. „Ich hoffe sehr, dass wir jetzt zu einem Ende kommen“, erklärt Anwalt Kraas.
Er war in jenem Sommer vor vier Jahren im Urlaub. Kraas war selbst mit dem Fahrrad unterwegs, in Schweden. Er brach den Aufenthalt ab, als er beauftragt wurde. Er fuhr hunderte Kilometer, sein Ziel: die Unfallstelle auf dem Sauerland-Radring zwischen Berge und Wenholthausen.
Zur Mittagszeit war der 66-jährige Berger hier unterwegs. Er war begeisterter Rennradfahrer. Unterwegs überholte er eine Gruppe. Sie fand den Mann bald darauf schwer verletzt. Er starb abends im Krankenhaus.
Anwalt gilt als Fachmann
Kraas gilt als Fachmann auf diesem Gebiet. Er hat den ähnlichen Fall einer Frau aus Freienohl durch alle Instanzen geboxt. Sie war als Radfahrerin bei Laer von einem schweren Ast getroffen worden und ist seitdem querschnittsgelähmt.
Kraas holte mit Unterstützung ihrer Familie ein rechtskräftiges Urteil heraus, dass durch die Fachpresse ging. Hier wäre es ähnlich verlaufen. „Gewunden“, hätten sich die Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen, berichtet Kraas. „Die wollten unbedingt ein Urteil vermeiden.“ Daher der Vergleich.
Für die Familie des Toten ist es wichtig, dass mit Mythen aufgeräumt wird. Eine Strategie der Verteidigung lautete: Vielleicht ist der Radfahrer zu schnell gewesen und in einen bereits umgestürzten Baum gerast. Ein Gutachten widerlegt das eindeutig. Die Beschreibung ist präzise und schonungslos: Spuren des Baums befinden sich am Helm. Der Körper ist zusammengestaucht. Weitere Spuren befinden sich am Sattel. Das Fahrrad ist auseinandergebrochen, mit Druck von oben nach unten. Keine Schäden befinden sich am Vorderrad.
Sieben Gutachten
Sieben Gutachten gibt es zum Zustand des Baums, der umgestürzt war. Das letzte war vor Gericht das entscheidende. Es besagt auch, dass der Tote noch leben würde, wenn die Baumkontrollen des Landesbetriebs Straßenbau anders verlaufen wären. Die Mitarbeiter hatten die Strecke mit einem Auto abgefahren und nach Auffälligkeiten geschaut. Sie stiegen nicht aus. Wären sie aufmerksamer gewesen und hätten an dieser verdächtigen Stelle nachgeschaut, das Unglück wäre nicht passiert.
Esche schlingt sich um die Eiche
In einem 50-Grad-Winkel ragte der Baum laut Gutachter schräg auf den Radweg. Er konnte nur in diese Richtung stürzen. Die Äste waren laut Experten ungewöhnlich lang. Um den Stamm der Eiche hatte sich eine Esche geschlungen. Die Wurzeln verkrüppelten, Wasser drang in einen Spalt ein, Fäulnis entstand, möglicherweise war da sogar ein Anbruch.
„Das hätte ein Laie sehen müssen“, sagte der Fachmann vor dem Oberlandesgericht aus. Was die Mitarbeiter hätten tun sollen, fragte der Senat. Die Antwort: „Den Chef fragen, mit einem Seil probeweise ziehen oder direkt wegmachen.“ 35 weitere Bäume an der Strecke stufte der Gutachter seinerzeit als bedenklich ein, sechs als akut gefährlich. Inzwischen ist viel geholzt worden am Sauerland-Radweg. Das ist die Kehrseite der Sicherheit.
Bedenkzeit bis Juli
Das Land Nordrhein-Westfalen hat noch Bedenkzeit bis Ende Juli, danach kann der Vergleich nicht mehr angefochten werden. Ansonsten würde bis zu einem Urteil verhandelt. Anwalt Kraas glaubt, dass der Familie dabei eine noch höhere Summe zugesprochen werden könnte. „Immerhin ist der Hauptverdiener weggebrochen, es geht um die Versorgung“, sagt er. Doch dieser Schicksalsschlag, vier Jahre zwischen Kanzlei, Akten und Gerichten - die Familie sehnt sich doch nach Ruhe, nach einem Abschluss.
Noch immer ist der Radweg idyllisch. Es ist auch weiter grün hier, auch wenn Bäume gefällt worden sind. Am Rand steht heute ein Holzkreuz. Mit frischen Blumen. Und einer Grableuchte.
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