Meschede-Freienohl. . 2011 überschlug sich Dominik Schreivogl aus Meschede mit seinem Auto. 40 Minuten war er im brennenden Wrack gefangen, er verlor beide Beine und den linken Unterarm. Bald kann er wohl wieder ohne Krücken laufen.
Warum er mitten in der Nacht nochmal losgefahren ist, weiß Dominik Schreivogl nicht mehr. Nach dem 13. März 2011 ändert sich sein Leben radikal. Bei Halbeswig überschlägt sich der damals 26-Jährige mit dem Auto, 40 Minuten ist er im brennenden Wrack gefangen. 39 Prozent seiner Haut verbrennen. Schreivogl verliert beide Beine, die linke Hand. Die Chancen sind gut, dass er bald wieder ohne Krücken laufen kann.
Schreivogl schwört auf schwarzen Kaffee, Freundin Anja Ullrich hat er damit angesteckt. Auf dem Wohnzimmertisch züchten sie Knoblauch, daneben stehen elektrische Salz- und Pfeffermühle. „Schnucke“ nennen sie sich gegenseitig. Sie frotzeln viel. Auf einer Party wurde das Gerücht gestreut, sie sei schwanger. Darüber können sie sich kaputtlachen. „Ich habe eine Beule am Bauch, wegen des künstlichen Darmausgangs“, sagt Ullrich. „Die arme Schwangere muss dann den dicken Buddha schieben“, grinst sie und knufft ihn. „Nachwachsen tut bei mir nichts, trotz Meditieren“, kontert der.
„Meine Beine stehen im Schlafzimmer“, sagt der 30-Jährige und rollt nach nebenan. „Anja braucht sich nicht über kalte Füße beschweren, meine sind immer kalt.“ Er kann die Prothesen nicht permanent tragen, weil die Stümpfe immer mal wieder wund sind oder nässen. Vieles geht mit einer Hand. Im Bad sind Bürste und Nagelfeile an die Wanne geheftet, in der Küche steckt ein Brotmesser im mobilen Schraubstock.
„Das kann man gar nicht überleben“
Eine Erinnerung aus der Reha: Ein Pfleger studiert die Krankenakte, schüttelt den Kopf. „Das kann man gar nicht überleben“, murmelt er. Kann man wohl. „Die Liste hab’ ich irgendwo“, Schreivogl schwingt herum und zieht eine schmale blaue Mappe aus dem Regal.
Der Ersthelfer versucht, ihn aus dem brennenden Schrottklumpen zu ziehen
Die Notfallärzte listen jede Verletzung auf, Schädel-Hirn-Trauma vierten Grades, Quetschungen, Prellungen, Verbrennungen. Dreieinhalb Seiten. „Der Patient bewegte die Gliedmaßen“, steht im Bericht, er war zum Glück bewusstlos. Not-OP in Dortmund, das Gehirn schwillt an, die Schädeldecke muss ab, sonst hätte sich das Organ im Schädel selbst zerquetscht. „Jetzt weiß ich, dass du ein Gehirn hast“, sagt sein Vater. „Ich habe es gesehen.“ Verlegung nach Bochum, Tage und Wochen im Koma.
Was ist passiert? Der Abend des 12. März, Samstag. Meisterfeier in Olsberg, Schreivogl trifft sich mit den Jungs, feiern, endlich prüfungsfrei. Nachts zurück. Er telefoniert, fährt nochmal los. Warum? Weiß er nicht. Gelöschte Erinnerungen. Das Gehirn wechselt in den Not-Modus: Aus, was nicht lebenserhaltende Funktionen betrifft.
Zurück in den Beruf
1,1 Promille ergibt der Bluttest. Zu viel, aber so viel? Überhöhte Geschwindigkeit? Laut Tacho nur leicht. Die Reifenspuren sagen: Eingeschlafen. Kürzlich war Schreivogl am Unfallort. Das Loch im Boden ist noch da. Sein Wagen gerät in den Graben, prallt vor einen Überweg, wird zusammengepresst wie eine Coladose. Um 7.15 der Notruf, „dass Sonntagmorgens da jemand vorbeifährt...“, sagt Schreivogl. Der Ersthelfer versucht ihn aus dem brennenden Schrottklumpen zu ziehen, weiß Schreivogl aus Erzählungen. Manches weiß er bis heute nicht. Ein Zahnarzt war dabei, hat Anja Ullrich herausgefunden.
Eine Amputation ist nicht das Ende
Mittlerweile engagiert sich Schreivogl für Crashkurs NRW, ein Präventionsprogramm der Polizei. Schreivogl erzählt Jugendlichen seine Geschichte. Sein Appell: „Schmeißt zusammen und nehmt ein Taxi. Ihr fahrt nicht nach Paris. Wer fährt, bleibt nüchtern! Dafür braucht man auch mal Eier.“ Projektleiter Josef Jakobi war begeistert.
Von der Versorgung mit der Handprothese drehte der plastische Chirurg ein Video – um Amputierten zu zeigen, was alles möglich ist. „Eine Amputation ist nicht das Ende. Ich kann’s nicht ändern, aber wenn aus dieser ganzen Scheiße etwas Gutes wird, ich anderen helfen kann, macht’s mich glücklicher.“
6. Mai. Drei Therapeutinnen singen am Bett ein Geburtstagsständchen. Die erste Erinnerung. Lange Lücken. Freunde, die ihn vor einer Woche besuchten, begrüßt er, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Seine Gliedmaßen hat er da schon nicht mehr.
Vier starke Sauerländer heben ihn in den Bus
Irgendwann hat sich Schreivogl von den vielen Verletzungen erholt. Bald marschiert der Mescheder auf Krücken über Krankenhausflure. Nach 41 Wochen ist er wieder zuhause. Plötzlich muss sich der junge Mann mit den banalsten Dingen beschäftigen, Kleinigkeiten für die meisten. Wie komme ich zu einer Fete, muss ich Treppen hoch, wo ist die Toilette? Ein Busfahrer kommandiert starke Jungs ab, sie heben Schreivogl im Rollstuhl vier enge Stufen rauf. „Gibt’s nur im Sauerland“, grinst er.
Ein Kumpel ist Bio-Ingenieur, ob er ihm nicht Axolotl-Hormone spritzen könnte, fragt er. Der bizarre mexikanische Schwanzlurch kann verlorene Gliedmaßen nachwachsen lassen. „Hast Du spioniert?“, wundert sich der Freund. „Die Firma forscht genau daran.“
Illusionen macht sich Schreivogl nicht, aber er verzweifelt nicht. Er lebt. Selbstbestimmt. „Keiner muss ein schlechtes Gewissen haben“, sagt er in Richtung derer, die irgendwie mit dem Unfall zu tun hatten und sich nie meldeten – was er sich aber wünschen würde. „Ich hätte sagen können: Ich bin zu voll, zu müde, ich fahre nicht. Jetzt ist es so, ich muss klarkommen.“ Er kommt klar, es gab tiefe Löcher. Aber nicht so tief, dass ein Sauerländer aus echtem Schrot und Korn nicht wieder rauskäme. Sein erster Neuropsychologe fragte: Kommst Du klar? „Ich muss es hinnehmen“, antwortete Schreivogl. „Hauptsache ich hab’ die rechte Hand noch.“ Dem Mann fiel alles aus dem Gesicht.
„Und Schub! Und Schub! Und Schub!“
Mit dem Einhand-Rollstuhl zum Einkaufen, Hänge rauf und runter. Auch Bordsteine. Schreivogl wuchtet den Rollstuhl zurück, der Kippschutz hält ihn. Vorderräder auf die Kante, nachschieben. Im Ohr Hansi aus Nuttlar, der ihm in Bochum beibrachte, was mit Rollstuhl alles geht: „Und Schub! Und Schub! Und Schub!“ Das hilft Schreivogl bis heute die Berge hoch. Mit Bus und Bahn besucht er Freunde, auch Ärzte und Therapeuten. „Ich schnappe mir Prothesen und Krücken, Rucksack auf und los geht’s. Noch hab ich die Zeit.“
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Noch. Er will zurück in seinen Beruf. Seine letzte Reha verlief super, zwei Wochen länger und Schreivogl wäre ohne Krücken davonspaziert. Kam nicht zustande, jetzt kämpft er für die nächste, die eigentlich nur alle vier Jahre ansteht. Schreivogl ist Handwerksmeister, Fachrichtung Maschinenbau. Das kann er auch wieder werden. Die Meisterausbildung soll nicht umsonst gewesen sein. Derzeit ist er Frührentner. „Ich bin 30“, sagt er. „Ich will arbeiten!“