Menden. .

Am 19. Juli 2009 raste ein Mann ungebremst in den Umzug der St.-Hubertus-Bruderschaft in Menden. Ein Jahr später sind viele Wunden noch nicht verheilt. Auch der Prozess gegen den Unfallverursacher steht noch aus.

Es ist die persönliche Nähe zu den Opfern, die dieses Unglück auf eine grausame Art so außergewöhnlich gemacht hat. Frank Uwe Beenß, Opferschutzbeauftragter der Polizei des Märkischen Kreises, kann sich an keinen anderen Unglücksfall in der Region in den vergangenen Jahrzehnten erinnern, der derart tiefe Spuren hinterlassen hat wie das Mendener Schützenfestzugsunglück.

Drei Familienväter starben, etliche Menschen wurden schwer verletzt, darüber hinaus gab es Dutzende leicht Verletzte, nachdem am 19. Juli vergangenen Jahres ein damals 79-jähriger Mendener ungebremst in den Festzug der St.-Hubertus-Bruderschaft raste. Doch nicht nur die unmittelbar Betroffenen benötigten nach dem Unglück erste Hilfe. Darüber hinaus gab es viele Augenzeugen. Wie viele, vermag niemand genau zu sagen. Manche sind unmittelbar nach dem Unfall – einem ersten Impuls folgend – weggerannt, kehrten erst Stunden später wieder zurück an den Unglücksort. Auch etliche dieser Augenzeugen benötigten in den Tagen, Wochen und Monaten nach dem 19. Juli 2009 Hilfe. Die Bilder, die sie am Schwitter Weg sahen, haben sich für immer in ihren Kopf, in ihre Seele, eingebrannt. Und haben bei manchen derart tiefe Spuren hinterlassen, dass es zu verschiedenen Symptomen wie Schlafstörungen, Schweißausbrüchen und Herzrasen kam.

„Es geht darum, die Bilder vom Unglück in das Fotoalbum des Lebens einzusortieren – an der richtigen Stelle und mit der richtigen Bewertung“, erklärt Frank Uwe Beenß. „Dann ist man auch wieder bereit, eine neue Seite für neue Bilder zu öffnen.“ Damit das gelingt, müsse „dieses absolut unnormale Ereignis in das normale Leben eingeordnet werden“.

Auch für die Einsatzkräfte war der Tag eine besondere Herausforderung

Der Opferschutzbeauftragte der Polizei, der am Unglückstag auch selbst vor Ort war, hat sich gemeinsam mit anderen Frauen und Männern darum gekümmert, dass Augenzeugen und andere Betroffene – wenn gewünscht – Hilfe bekamen. Besonders gut habe die Zusammenarbeit mit der Notfallbegleitung Menden und dem PSU-Team (Psycho-Soziale Unterstützung) Sauerland funktioniert: „Sonst wären die niedrigschwelligen Angebote gar nicht möglich gewesen.“

Zum einen wurden Ansprechpartner von Beratungsstellen vermittelt. Zum anderen gab es verschiedene Seelsorge-Termine. „Von großem Vorteil war es, in der Stadt durch die Vereine und Kirchengemeinden eine bestehende Gemeinschaftsstruktur zu finden“, blickt Frank Uwe Beenß zurück. Viele Augenzeugen und Angehörige hätten das Bedürfnis gehabt, über den Unglückstag zu sprechen, sich auszutauschen mit Menschen, „die das Gleiche erlebt hatten wie sie selbst“, erinnert sich Frank Uwe Beenß. Auch für Profis wie gestandene Feuerwehrleute und Polizisten sei der Einsatz eine besondere Herausforderung gewesen: „Der Unterschied zu anderen Einsätzen ist, dass es eben auch viele Freunde, Bekannte oder Verwandte unter den Opfern gab.“

Warum die anderen? Warum hat es mich nicht erwischt?

Selbst Menschen, die gar nicht Augenzeugen des eigentlichen Unglücks waren, haben unter dem Unfall gelitten. So weiß Frank Uwe Beenß von Menschen, die wenige Minuten vor der Katastrophe weggegangen sind: „Da kommt dann auf einmal ganz viel schlechtes Gewissen hoch“, berichtet Frank Uwe Beenß. „Man fragt sich: Warum die anderen? Warum hat es nicht mich erwischt?“ Bisweilen habe es lange gedauert, bis die Freude über das eigene Überleben zugelassen werden konnte.

Vergessen, da ist sich Frank Uwe Beenß sicher, wird keiner der auf welche Art auch immer Beteiligten den 19. Juli 2009: „Der Tag wird ein Teil des Lebens bleiben. Es darf auch gar nicht der Wunsch sein, die Erinnerungen daran zu vergessen.“ Vielmehr sei die Frage, auf welche Art man sich daran erinnere.

Urteil würde dem
Seelenfrieden helfen

Ein Jahr nach dem Tag, an dem ganz Menden Trauer getragen hat, fehlt vielen immer noch ein Puzzlestück, um das Unglück vollständig verarbeiten zu können: Der Prozess gegen den Unfallverursacher hat noch nicht stattgefunden. Wenn ein Prozess eingestellt werde oder gar nicht stattfinde, „ist das immer unglücklich“, berichtet Frank Uwe Beenß. Die strafrechtliche Beurteilung sei ein ganz wichtiger Aspekt in der Verarbeitung. „Dazu gehört auch die Frage: Gibt es so etwas wie Gerechtigkeit?“, erklärt der Opferschutzbeauftragte. Dabei komme es nicht auf das Urteil an. „Es geht eher darum: Sagt der Unfallverursacher etwas? Erklärt er etwas? Oder nutzt er seine rechtlichen Möglichkeiten aus? Ich denke, dass die Opfer auf eine Erklärung warten.“

Und wenn der Senior, der damals am Steuer des Mercedes A-Klasse saß, weiterhin zum Tathergang schweigt? „Dann geht es darum, dass vom Gericht Schuld festgestellt oder zugewiesen wird. Eine Erklärung oder ein Urteil würde dem Seelenfrieden vieler Betroffener in ihrem Trauerprozess gut tun.“