Menden. Kurz nach der Geburt ihres Sohns hat eine Mendenerin ein schlechtes Bauchgefühl. Irgendwas stimmt nicht. Doch keiner nimmt sie ernst.

Es ist der 8. April 2023. Es ist spät. Jessica Ranson packt noch Koffer, weil sie mit ihrer Tochter Mia und Sohn Kilian einen Ausflug nach Hamburg machen möchte. Plötzlich verdreht der einjährige Kilian die Augen und krampft. Er hat einen heftigen epileptischen Anfall. Schock. Panik. „Ich habe sofort Hilfe gerufen“, erinnert sich Jessica Ranson mit Tränen in den Augen. Der Moment hat sich eingebrannt. Kurz darauf ist die Wohnung voll. Mehrere Notärzte und Rettungssanitäter kümmern sich um den kleinen Kilian und bringen ihn schließlich ins Krankenhaus, wo ein Untersuchungsmarathon beginnt. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Diese Nacht wird das Leben ihrer geliebten Patchwork-Familie dauerhaft verändern. Bald wird klar sein: Kilian ist schwer krank und hat einen sehr seltenen Gendefekt, den sogenannten KCNB1-Gendefekt.

„Mein Appell an alle Mamas ist wirklich: Wenn euer Bauchgefühl euch sagt, da stimmt etwas nicht, dann stimmt auch etwas nicht.“

Jessica Ranson, Mama von Mia und Kilian sowie Bonusmama von Charlotte

Es ist eine Geschichte über eine Familie, die sich bewusst füreinander entschieden hat. Eine Geschichte über zwei Erwachsene, die plötzlich nicht mehr nur Eltern sind, die sich um drei Kinder, ihre Berufe und den Alltag kümmern müssen. Plötzlich sind sie auch pflegende Eltern. Plötzlich geht es um Leben und Tod, um Existenzängste, Pflegestufen-Anträge und Ausgrenzung. Aber auch um Hoffnung. Und Liebe. Viel Liebe.

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Höhen und Tiefen einer Patchworkfamilie durchlebt

Jessica Ranson und ihr Partner Marcus Fuhrmann kennen sich schon seit der Kindheit. Irgendwann verlieren sie sich aus den Augen, Jahre später funkt es. In der Zwischenzeit ist einiges passiert. Jessica Ranson ist alleinerziehende Mama von der heute zwölfjährigen Mia und Marcus Fuhrmann Papa von der elfjährigen Charlotte. 2017 werden sie ein Paar und bauen sich ihr Leben als Patchworkfamilie auf. Sie kaufen eine Wohnung, machen es sich schön. Erleben alle Höhen und Tiefen einer klassischen Patchworkfamilie - von Rosenkrieg bis Versöhnung.

„Kilian war eine freudige Überraschung. Wir haben uns natürlich die Frage gestellt, ob wir das machen oder nicht.“

Jessica Ranson

Dann wird Jessica Ranson schwanger. Mit 40. „Kilian war eine freudige Überraschung“, sagt sie und lächelt. „Wir haben uns natürlich die Frage gestellt, ob wir das machen oder nicht.“ Mit 40 Jahren noch einmal ein Kind bekommen? Noch einmal von vorne anfangen, nachts Windeln wechseln? Und wie soll man das finanziell stemmen, wo man doch gerade die Wohnung gekauft hat und auf die vollen Einkommen angewiesen ist? Lange überlegt das Paar, doch entscheidet sich dann für das Kind. Alles läuft wunderbar. Und weil es wegen des Alters von Jessica Ranson eine Risikoschwangerschaft ist, finden schon während der Schwangerschaft viele Tests statt. Alle negativ. Kilian ist gesund. Zumindest denken das alle.

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Immer wieder beim Kinderarzt, weil das Bauchgefühl Alarm schlägt

Jessica Ranson fällt es schwer, über die Nacht des 8. April 2023 zu reden. Auch mehr als ein Jahr später nimmt es sie und ihren Partner sehr mit. Ihr Bauchgefühl hatte ihr schon lange gesagt, dass irgendwas mit Kilian nicht stimmt. Nur was es ist, das konnte ihr niemand sagen. „Ich bin ständig zum Kinderarzt gegangen“, sagt sie. Doch alles sei gut, alles normal. Bis zum 8. April. Dem Tag X, wie sie es beschreibt. „Mein Appell an alle Mamas ist wirklich: Wenn euer Bauchgefühl euch sagt, da stimmt etwas nicht, dann stimmt auch etwas nicht.“

„Das Stillen hat nicht funktioniert und wir mussten ihn für die Mahlzeiten wecken.“

Jessica Ranson, Mutter

Kilian habe nie geweint, unheimlich viel geschlafen und kaum Interesse an Nahrung gezeigt. „Das Stillen hat nicht funktioniert und wir mussten ihn für die Mahlzeiten wecken“, sagt sie. Außerdem sei sein Körper immer sehr schlaff gewesen. Kraftlos. Irgendwann sei dazu gekommen, dass Kilian sich aus dem Nichts immer wieder erschreckt habe. Das alles habe sie dem Kinderarzt gesagt, ernst genommen worden seien ihre Beobachtungen aber nicht wirklich. Bis zum 8. April.

Kilian benötigt einen speziellen Buggy und einen Therapiestuhl. Auch die Therapieschaukel hilft ihm im Alltag und bereitet ihm viel Freude.
Kilian benötigt einen speziellen Buggy und einen Therapiestuhl. Auch die Therapieschaukel hilft ihm im Alltag und bereitet ihm viel Freude. © WP | Jennifer Wirth

Kilian wird in ein Hagener Krankenhaus gebracht. „Uns wurde in Hagen sofort geholfen“, sagt Jessica Ranson. „Der Arzt hat sofort gesagt, dass das nicht normal ist“, erinnert sich Marcus Fuhrmann. Seine Exfrau habe in der Nacht sofort reagiert und sowohl auf Charlotte als auch auf Jessica Ransons Tochter Mia aufgepasst, damit die Eltern mit Kilian im Krankenhaus sein konnten. „Ohne Wenn und Aber“, sagt Marcus Fuhrmann. Für diese Unterstützung - bis heute - sind sie sehr dankbar. „Wir sind ein richtiges Team.“

„Die Zeit im Krankenhaus war furchtbar. Gendiagnostik. Ich meine, was ist das?“

Marcel Fuhrmann, Vater

Im Krankenhaus startet dann das Suchspiel. In Marcus Fuhrmanns Familie gibt es zwar Fälle von Epilepsie, doch nicht vergleichbar mit der Form von Kilian. Es folgen etliche Untersuchungen über Stoffwechseldiagnostik bis hin zur Gendiagnostik. „Die Zeit im Krankenhaus war furchtbar“, sagt Marcus Fuhrmann. „Gendiagnostik. Ich meine, was ist das? Für mich hatte das mit dem Downsyndrom zu tun und ich dachte: Das sieht man doch. Und man sieht doch, dass Kilian das nicht hat“, erinnert er sich.

Der Befund bringt Klarheit, aber reißt auch den Boden unter den Füßen weg

Schließlich folgt der humangenetische Befund im Mai 2023: KCNB1. Ein sehr seltener Defekt, den laut der Familie nur 20 bis 30 Menschen in Deutschland und rund 500 weltweit haben. „Dann war auch klar, dass die Ärzte damit kaum Erfahrung haben und dass die Baustelle jetzt erst richtig anfängt“, sagt Marcus Fuhrmann. „Das hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen“, sagt Jessica Ranson. Ihre Stimme bricht, sie sieht zu Boden. „Warum?“ Diese Frage treibt die Familie lange um. Eine Antwort darauf gibt es nicht.

Das KCNB1-Gen ist Bestandteil eines Kalium-Kanals spezifischer Nervenzellen - vor allem im Gehirn. Bei einem Defekt des Kalium-Kanals wird das geordnete Öffnen und Schließen für die Zellen weniger oder gar nicht mehr kontrollierbar. Die Folge sind unter anderem epileptische Anfälle, die auch mit Medikamenten nur schwer zu kontrollieren sind. Auch die normale Gehirnentwicklung wird gestört und damit auch die motorische, kognitive und sprachliche Entwicklung.

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Albtraum: Kilians Atmung setzt für fast 40 Sekunden aus

Gerade als die Medikamente eingestellt sind und es Kilian besser geht, kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall. Auf einmal atmet Kilian nicht mehr. „Ich habe ihn hoch genommen, angepustet und versucht ihn nicht zu schütteln. Er ist grau angelaufen“, sagt Jessica Ranson. Ein absoluter Albtraum. „Ich habe über seine Brust gerubbelt wie wild.“ Kilian landet auf der Intensivstation. „Er sah so schlecht aus. Ich dachte, er kommt nicht mehr zurück“, sagt Marcus Fuhrmann. Doch Kilian kämpft. Mittlerweile hat sich alles eingependelt, er bekommt Spezialnahrung und ist fröhlich. Sogar einen inklusiven Kindergartenplatz konnte die Familie trotz vieler Hürden für Kilian ergattern. Und durch Hilfe des Bunten Kreises Hagen und viel Geduld haben sie einen ersten Berg des Bürokratie-Dschungels rund um Pflegestufen, Hilfsmittelanträge und Schwerbehindertenausweis überwunden.

„Ich habe ihn hoch genommen, angepustet und versucht ihn nicht zu schütteln. Er ist grau angelaufen.“

Jessica Ranson

Kilian, der im August zwei Jahre alt wird, ähnelt optisch zwar einem Vierjährigen, doch er kann weder alleine sitzen, noch sprechen oder laufen. „Er reagiert auf Musik und auf Stimmfarbe“, sagt seine Mama. Einen riesigen Meilenstein haben sie erst jüngst erreicht: „Kilian reagiert auf mich und lächelt zum ersten Mal zurück“, sagt sie voller Stolz. Auch den Armstütz hat er geschafft, kann sich jetzt sogar drehen und Brei essen. Was nach Kleinigkeiten klingt, ist für die Familie heldenhaft und besonders.

Gefühlschaos: Irgendwie zwischen Löwenmama und Traurigkeit

Doch nicht alle Menschen können damit umgehen. Nicht selten werde die Familie ausgegrenzt oder komisch angesehen. „Man merkt schon die Blicke von außen“, sagt Marcus Fuhrmann. Von Blicken durchlöchert, so beschreibt er es. Dabei wollen auch sie nur normal sein. Spazieren gehen, durch die Stadt bummeln oder gemeinsam Sport treiben. „Ich finde es besser, wenn uns die Menschen gezielt ansprechen“, sagt auch seine Partnerin. Wenn man ins Gespräch komme, gebe es meist nur positives Feedback und aufbauende Worte. „Das gibt mir Kraft.“

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Immer wieder gebe es Höhen und Tiefen. Mal fühle sich Jessica Ranson wie eine starke Löwenmutter, mal liege sie weinend auf dem Sofa. Sie will allen gerecht werden. Auch den anderen Kindern, die durch die Erkrankung des Jungen weniger Aufmerksamkeit bekommen. Wenn sie könnte, sagt sie, würde sie zuhause bleiben und den Job aufgeben, um Kilian zu pflegen. Doch der finanzielle Druck ist ein ständiger Begleiter - obwohl beide Elternteile arbeiten.

„Kilian ist freundlich, liebevoll und glücklich. Aber auch willensstark und unheimlich süß.“

Jessica Ranson

Dennoch: Die Familie gibt nicht auf und will anderen Betroffenen Mut machen. Grundlegend komme es immer auf die Sichtweise an. Denn natürlich sei die Situation belastend und auch traurig. Doch auf der anderen Seite werde Kilian ohne Leistungsdruck aufwachsen. „Er darf einfach er sein, auf seine Art und Weise und in seinem Tempo.“ Und das sei sehr wertvoll.

Familien, die sich in einer ähnlichen Situation befinden und Lust haben sich auszutauschen, können sich gerne mit der Familie Fuhrmann/Ranson in Verbindung setzen via Mail an infoxgenial@gmail.com. Jessica Ranson und Marcus Fuhrmann sind offen für den Austausch und würden sich freuen, in Kontakt mit anderen Betroffenen zu kommen. Erste Kontakte konnten sie bereits über die Internetseite www.kcnb1.de einer betroffenen Mutter knüpfen. Bald steht das erste Treffen mit anderen Familien an.

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