Menden. Pauls Mutter trinkt in der Schwangerschaft Alkohol. Die Folgen treffen den heute 17-jährigen Mendener ein Leben lang.

Als sie Paul zum allerersten Mal sehen, schließt das Ehepaar den damals Eineinhalbjährigen sofort ins Herz. Damals ahnen die beiden nicht, dass ihr Leben durch die Entscheidung, Paul ein Zuhause zu geben, komplett auf den Kopf gestellt werden würde. Denn der heute 17-Jährige hat FASD (Fetale Alkoholspektrumstörung).

Paul heißt nicht wirklich Paul. Seine Pflegeeltern gehen offen damit um, dass er FASD hat, möchten ihren Sohn aber in der Öffentlichkeit schützen und deshalb anonym bleiben.

Am 29. Februar 2008 zieht Paul in sein neues Zuhause

Die 52-jährige Mendenerin und ihr 54-jähriger Ehemann konnten keinen eigenen Nachwuchs bekommen und wollten gerne ein Kind bei sich aufnehmen. Als nach Kursen und Vorbereitungszeit nach langer Zeit endlich der ersehnte Anruf des Jugendamtes kommt, ist die Freude riesig. Über mehrere Wochen lernen sie Paul, der damals in einer Bereitschaftspflegefamilie lebte, kennen. Am 29. Februar 2008 – „das war ein Schaltjahr“ – zieht Paul in sein neues Zuhause.

Je älter er wird, desto zerstörerischer ist sein Verhalten

An die ersten Monate erinnert sich das Ehepaar, das in einem dörflichen Bereich der Hönnestadt lebt, noch sehr gut. Pauls Verhalten ist auffällig – und bleibt es bis heute. Je älter er wird, desto zerstörerischer ist sein Verhalten. Paul zündet die Matratze in seinem Zimmer an, zündelt immer wieder. Im Haus sind nicht nur Rauchmelder installiert, sondern auch Löschdecken und Feuerlöscher. Paul lügt, klaut Geld, Schmuck, zerstört Gegenstände, nimmt Drogen, stiehlt im Elternhaus, bei Freunden, bei Fremden. Sind sie nicht zu Hause, müssen Pauls Pflegeeltern alle Zimmer im Haus – bis auf Pauls Zimmer und ein Badezimmer – abschließen. Wertsachen sind ohnehin gesichert, Paul würde sie zerstören oder für ein paar Euro verkaufen. Seine Pflegeeltern kaufen sich einen Tresor.

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Aus Wut eine Wand zu Hause eingeschlagen

Das Wasserbett seiner Eltern löchert er mit einer Nagelschere, schlägt aus Wut mal eben eine Wand zu Hause ein. Ordnung halten funktioniert nicht, sein Zimmer würde vermüllen, wenn seine Eltern sich nicht kümmern würden.

Ein Mensch sitzt hinter Alkoholflaschen (Symbolbild). In Deutschland kommen jedes Jahr mehrere tausend Babys mit Behinderungen zur Welt, weil ihre Mütter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben.
Ein Mensch sitzt hinter Alkoholflaschen (Symbolbild). In Deutschland kommen jedes Jahr mehrere tausend Babys mit Behinderungen zur Welt, weil ihre Mütter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben. © picture alliance / dpa | Jens Büttner

Zurück zum Anfang in seinem neuen Zuhause: Nach der ersten für seine Pflegeeltern sehr herausfordernden Zeit kommen mit dem Kindergarten die Probleme. Keine Regel, die Paul nicht bricht. „Sitzkreise hat er regelrecht gesprengt“, erinnert sich sein Pflegevater. „Er musste Geräusche machen, konnte nicht sitzen bleiben.“

Noch schwieriger wird es in der Grundschule. Pauls Schultisch wird schließlich vor die Tür gestellt, weil er den Unterricht so stark stört. In die Schule nimmt er mal ein Messer, mal einen Bunsenbrenner mit. Irgendwann bekommt Paul dann eine Integrationskraft, die den größten Teil des Schultages dabei ist, „die Integrationskraft hat die ganze Schulzeit begleitet“. Dabei ist es, erzählt das Ehepaar, auch nicht eine einzelne Kraft, sondern es sind immer wieder neue. Mit dieser Begleitung schafft Paul den Hauptschulabschluss.

Paul lässt sich extrem leicht ablenken

Bei einem Test stellt sich heraus, dass Paul eine durchschnittliche Intelligenz hat. Doch er lässt sich - nicht nur in der Schule - extrem leicht ablenken, erzählen seine Pflegeeltern: Das Ehepaar befürchtet, dass diese Unkonzentriertheit ihm auch in einer Ausbildung „und damit auch im Rest seines Lebens große Schwierigkeiten bereiten“ wird. Es sei fraglich, ob Paul „jemals einer geregelten Arbeit nachgehen oder sein Leben mit all den bürokratischen Hürden allein gestalten“ könne.

Jutta Neumann hat in Menden eine FASD-Selbsthilfegruppe gegründet. Die Abkürzung FASD steht für „Fetale Alkoholspektrum-Störungen“.   
Jutta Neumann hat in Menden eine FASD-Selbsthilfegruppe gegründet. Die Abkürzung FASD steht für „Fetale Alkoholspektrum-Störungen“.    © Menden | Corinna Schutzeichel

Einmal treffen seine Aggressionen seine Mutter besonders. Paul zerstört einen Ring. „Das war der Ring meiner verstorbenen Mutter“, erzählt die 52-jährige Mendenerin. Als sie Paul fragt, wieso er das getan habe, schließlich sei das eine für sie wertvolle Erinnerung gewesen, habe er angefangen zu weinen. Denn immer wieder gibt es auch die andere, die positive Seite, betonen seine Pflegeeltern. „Ich habe mich mal aufs Sofa gelegt“, erzählt seine Pflegemutter. „Da ist Paul zu mir gekommen, hat mir eine Decke gebracht und angeboten, mir einen Tee zu kochen.“

Paul hatte schon als Baby massive Angst einzuschlafen.
Pauls Pflegeeltern

Das Schlimmste für Paul ist es bis heute, wenn er Ruhe aushalten muss. Einschlafen, durchschlafen – von Anfang an ein riesiges Problem. Paul hatte, so erzählen seine Eltern, schon als Baby „massive Angst einzuschlafen“. Als er älter wird, kann er von den Dämonen, die ihn mit gewalttätigen Bildern im Traum aufsuchen, berichten: „Er hat erzählt, welche schlimmen Alpträume er hat.“

Von Erwachsenen, das habe Paul als Baby gelernt, hat er nichts Gutes zu erwarten, fasst das Ehepaar die frühen Erfahrungen zusammen, die Paul bei seiner leiblichen Mutter, gemacht hat: „Die Mutter war von frühester Kindheit an das maximale Negativbild.“ Sein leiblicher Vater sei „nicht bekannt“.

Impulskontrolle ist kaum möglich

Er konnte nie Nähe zulassen. Es tut uns als Eltern weh, dass wir ihn nicht in den Arm nehmen dürfen.
Pauls Pflegemutter

Emotionen sind für Paul bis heute schwierig, Impulskontrolle ist kaum möglich. Körperliche Nähe zu Menschen lässt er nicht zu. Schon als Kleinkind zeigt er deutlich, dass eine Grenze überschritten wird, wenn Mama oder Papa ihn in den Arm nehmen wollen. Die beiden Hunde der Familie werden geknuddelt und geherzt, bei Menschen hingegen geht Paul immer auf körperliche Distanz. „Er konnte nie Nähe zulassen“, sagt seine Pflegemutter traurig. „Es tut uns als Eltern weh, dass wir ihn nicht in den Arm nehmen dürfen.“

Menschen, die von FASD betroffen sind, haben oft auch typische körperliche Merkmale, die an dieser so genannten Fasi-Puppe (hier beim FASD-Zentrum der Lebenshilfe in Essen) zu sehen sind. Merkmale sind unter anderem: schmale Lidspalte, leichtes Schielen, vorstehende Nasenflügel, sehr schmale und gerade Oberlippe, fehlende Rinne zwischen Nase und Oberlippe.
Menschen, die von FASD betroffen sind, haben oft auch typische körperliche Merkmale, die an dieser so genannten Fasi-Puppe (hier beim FASD-Zentrum der Lebenshilfe in Essen) zu sehen sind. Merkmale sind unter anderem: schmale Lidspalte, leichtes Schielen, vorstehende Nasenflügel, sehr schmale und gerade Oberlippe, fehlende Rinne zwischen Nase und Oberlippe. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Anfangs vermutet das Ehepaar, „dass alles an einem Trauma liegt, das er von seiner leiblichen Mutter hat. Wir kannten damals keine Details, wussten aber, dass die Mutter viel Party gemacht hat, das klang nach Vernachlässigung.“ Viele Besuche bei Ärzten, Psychiatern, Psychologen, Logopäden und Ergotherapeuten folgen. Immer sind da auch die leisen Zweifel: „Liegt es an uns? Machen wir etwas falsch?“ Zwischendurch muss sich das Ehepaar anhören: „Euer Kind ist einfach nicht richtig erzogen.“

Immer wieder kleine Nadelstiche. Auf der einen Seite das Kind, dem es offenbar nicht gut geht, dem anscheinend niemand helfen kann. Das Kind, das die Eltern immer wieder enttäuscht, sie verletzt. Und auf der anderen Seite die Pflegeeltern, die ihrem Kind voller Liebe begegnen und es dennoch nicht mal in den Arm nehmen dürfen, weil Paul dies nicht ertragen könnte.

2021 bekommt Paul die Diagnose FASD

Im Nachhinein sind alle Verhaltensweisen nachvollziehbar und erklärbar.
Pauls Pflegeeltern angesichts der Diagnose FASD, die Paul erst spät erhielt

2021 dann die Wende. Nach einem Besuch bei einem weiteren Experten erhält Paul die Diagnose FASD, seine leibliche Mutter hat in der Schwangerschaft Alkohol getrunken. Und auf einmal lassen sich die vielen Auffälligkeiten erklären, blickt das Ehepaar zurück. Die beiden sind erleichtert, dass es – endlich – eine Diagnose gibt, dass sie wissen, dass Paul mit Herausforderungen zu kämpfen hat, die von aller Liebe dieser Welt nicht ausgemerzt werden können: „Im Nachhinein sind alle Verhaltensweisen nachvollziehbar und erklärbar.“ FASD-Betroffene haben „kein schlechtes Gewissen, das erlernen sie nicht“, sagt der Pflegevater.

Tiefe Trauer über Chancen, die ihr Kind niemals haben wird

Aber das Ehepaar ist zugleich unendlich traurig über die Diagnose: „Wir wissen jetzt, dass Paul niemals alleine leben kann. Er wird niemals eine eigene Familie haben, ein eigenständiges Leben leben.“ In die Erleichterung über die Diagnose mischt sich tiefe Trauer über Chancen, die ihr Kind niemals haben wird.

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Paul kann nicht alleine gelassen werden

Seit einiger Zeit nimmt Paul Drogen, vor allem Marihuana, jeden Abend muss er zu Hause einen Urintest machen, der acht verschiedene Drogen anzeigen kann. Bis heute, mit 17 Jahren, „können wir Paul nicht alleine zu Hause lassen“.

FASD – Fetale Alkoholspektrumstörung

Die Abkürzung FASD steht für Fetale Alkoholspektrumstörung (englisch: Fetal Alcohol Spectrum Disorder). FASD ist ein Sammelbegriff für verschiedene Schädigungen eines Kindes, die durch Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft ausgelöst werden. Über die Nabelschnur landet der Alkohol, den eine werdende Mutter konsumiert, beim Baby im Mutterleib.

„Alkoholkonsum während der Schwangerschaft hat erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit des ungeborenen Kindes. Er kann zu lebenslangen körperlichen und geistigen Schädigungen sowie zu Verhaltensauffälligkeiten des Kindes führen. Alle Formen dieser vorgeburtlichen Schädigungen werden unter dem Begriff FASD (…) zusammengefasst“, heißt es in einer Broschüre der Bundesregierung. „Menschen mit FASD sind für ihr gesamtes Leben beeinträchtigt, wobei die größten Probleme oft in der Bewältigung des Alltags liegen. Ein ,normales‘ Leben ist nur den wenigsten Jugendlichen und Erwachsenen mit FASD möglich.“

Bei manchen Kindern und Jugendlichen, die das FASD haben, gebe es optische Auffälligkeiten, beschreibt FASD-Fachkraft Jutta Neumann. „Dann sind zum Beispiel die Ohren kleiner, die Lidfalte ist anders, die Lippen haben ein intensiveres Rot.“ Das treffe aber nicht auf alle FASD-Kinder zu.

Paul macht jetzt ein Berufsvorbereitungsjahr

Derzeit absolviert Paul ein Berufsvorbreitungsjahr. Nachdem es anfangs rund lief und Paul nach einem ersten Praktikum sogar fast eine Ausbildungsstelle in Aussicht hatte, erneut ein Rückschlag beim zweiten Praktikum. „Er verliert das Interesse an allem so schnell, lässt sich immer ablenken“, erzählt seine Pflegemutter. Das Handy ist stundenlang interessanter als die Arbeit, die Lehrstelle passé. Bald soll ein neuer Anlauf mit einem neuen Praktikum folgen.

Er ist doch unser Kind.
Pauls Pflegemutter

Die Nachbarn in dem kleinen Dorf in Menden, in dem die Familie seit vielen Jahren lebt, ziehen sich im Laufe der Jahre zunehmend zurück, Freunde bleiben weg, Kollegen machen sich in der Freizeit rar, Gleichaltrigen wird verboten, Paul zu treffen. „Schlechter Umgang“, heißt es. Sogar die eigene Familie des Ehepaares distanziert sich. „Wir fühlen uns hier im Dorf regelrecht vereinsamt“, sagen die beiden. Irgendwann sei es allen zu viel geworden, von den Problemen, die es mit Paul gebe, zu hören. „Warum gebt ihr ihn denn nicht weg?“, müssen sie sich anhören. „Dann hättet ihr diese Probleme nicht.“ Für das Ehepaar undenkbar: „Wenn wir ihn weggeben würden, wo sollte er denn hin?“, sagt der 54-jährige Familienvater. „Er würde unter einer Brücke landen.“ Und außerdem, fügt seine Frau hinzu: „Er ist doch unser Kind.“