Menden. Medizin für die Kleinsten ist heiße Ware: In Menden arbeiten die Apotheken am Limit und bekommen Anfragen weit über die Stadtgrenzen hinaus.
Es fehlt an allem – Kinderarztterminen, Klinikbetten, Kinderkrankenpflegern und an Medizin. Eltern, die gerade Fiebersäfte und Schmerzmittel für die Kleinsten brauchen, machen mitunter eine Odyssee durch. Aber auch Antibiotika und andere Mittel werden immer knapper. „Die Lage ist katastrophal. Bei Schmerz- und Fiebermittel ist es sehr schlimm“, sagt Nadja Kaufmann. Sie ist Inhaberin der Sonnen-Apotheke an der Unnaer Straße. Am Wochenende habe sie Notdienst gehabt. Verzweifelte Eltern seien von der Kinderklinik in Dortmund zu ihr gefahren, um wichtige Medizin zu ergattern – nachdem sie zuvor erfolglos mehrere Städte abgeklappert hatten.
+++ Darum ist die Lage in den Kinderkliniken gerade so brisant ++++
Zur Verdeutlichung: Für 200 Kunden im Notdienst seien 150 Anrufe nötig gewesen, um mit den entsprechenden Ärzten eine alternative, verfügbare Medikation zu besprechen. Arbeiten am Limit, hoher Leidensdruck für die Kranken und eine nervliche Belastungsprobe für alle Beteiligten. „Wir möchten helfen und können nicht. Das ist ganz schlimm. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind hat 41 Grad Fieber und sie können nur Wadenwickel machen. Einfach schlimm!“, sagt Nadja Kaufmann.
Rohstoffe und Substanzen für die Eigenherstellung fehlen aktuell ebenfalls
Und selbst wenn neue Fiebersäfte und Zäpfchen für die Kleinsten ankommen, seien es zu wenige. „Im Handverkauf ist das nicht möglich“, sagt Nadja Kaufmann. Sie kann nur auf Rezept ausgeben, „für die wirklich kranken Kinder“, wie sie sagt. Keine schöne Situation. In der Nachbarstadt Iserlohn sind Apotheken dazu übergegangen, selbst Säfte und Zäpfchen herzustellen. „Das würden wir auch gerne“, sagt Nadja Kaufmann, deren Apotheke sich in unmittelbarer Nähe zu einem Kinderarzt befindet. Doch ihr fehlen die entsprechenden Substanzen. Auch diese sind nicht lieferbar oder die entsprechenden Rezepturen werden von den Krankenkassen nicht gezahlt. Ein selbst gemachter Fiebersaft koste eben mehr als ein fertiger. Kosten seien ein großes Problem, zu lange habe die Politik auf die Strategie „billiger, billiger, billiger“ gesetzt und zugelassen, dass die Produktion sich ins Ausland verlagert hat. „Leidtragende sind jetzt die Kinder.“
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Eine stichprobenartige Umfrage bei den Mendener Apotheken zeigt ein ähnliches Bild. Der Wille zur Eigenproduktion ist da, doch es fehlen die Rohstoffe, bestätigt auch Ann-Christin Mierzwa von der Heide-Apotheke. „Ich bekomme die Rohstoffe für die Grundlösung nicht. Aber wenn wir selbst herstellen, dann auch korrekt.“ Zäpfchen für Kinder habe sie aus eingeschmolzenen Erwachsenen-Zäpfchen in geringerer Dosierung bereits hergestellt.
Lage wird sich vermutlich erst einmal weiter zuspitzen
Das Problem ist nicht neu, aber es spitzt sich zu – auch in der Hönnestadt. Es gibt massive Lieferengpässe, viele Mittel – auch für Erwachsene – sind nur sehr limitiert oder gar nicht zu haben. Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte gibt es derzeit gut 330 Meldungen zu Lieferengpässen von Präparaten. Henry Friemauth, Inhaber der St.-Vincenz-Apotheke und der Lahrfeld-Apotheke: „Wir warten derzeit auf 90 bis 100 Medikamente für Erwachsene, die wir normalerweise vorrätig haben. So schlimm war es noch nie“, sagt er.
Es gebe zwar immer mal wieder Engpässe, doch eigentlich immer passende Alternativen. „Doch die alternativen Wirkstoffe fallen gerade auch weg. Außerdem gibt es Medikamente, die wirken einzigartig“, erklärt der Fachmann. Rücksprachen mit den Ärzten sind nötig und im Zweifel müssen Patienten vom Arzt auf ein anderes Medikament umgestellt werden. „Das ist eine Vollkatastrophe“, sagt Henry Friemauth, der so einen Fall in diesem Jahr begleitet hat. Das Medikament einer seiner Kunden, eines Krebspatienten, war trotz größter Mühen nicht zu kriegen. „Die Entwicklung ist hochdramatisch“, sagt auch Nadja Kaufmann.
Flohmärkte für Medizin: Hochgefährlich sagen Apotheker in Menden
Mitten in der Krise schlug der Präsident der Bundesärztekammer Eltern sogar vor, in der Nachbarschaft Flohmärkte für Medikamente zu veranstalten. Dafür, so hieß es erst, könnten auch Arzneimittel infrage kommen, deren Haltbarkeitsdatum bereits einige Monate abgelaufen sei. Die Apotheker reagierten irritiert: „Arzneimittel gehören in Apotheken, nicht auf den Flohmarkt – schon gar keine abgelaufenen Arzneimittel“, sagte der Präsident der Bundesapothekerkammer, Thomas Benkert.
Mittlerweile habe die Bundesärztekammer nachgebessert, sagt Nadja Kaufmann, die diesen Vorschlag für absolut unverantwortlich und fahrlässig hält. Nun sei die Rede von originalverpackten, nicht verschreibungspflichtigen Mitteln für nachbarschaftliche Flohmärkte. „Das ist eine Unverschämtheit“, sagt sie. Nachbarschaftshilfe im kleinen Rahmen sei in Notfällen in Ordnung, alles andere schlichtweg gefährlich. Sie wünscht sich, dass die Arbeit der Apotheken vor Ort mehr anerkannt und honoriert wird. Beratung sei ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit.
Neue Preisregelung für Kindermedikamente soll kommen
Einen Lichtblick für die Kleinsten gibt es derweil: Die Preisregeln für Kinderarzneien sollen bald deutlich andere sein. Jetzt wurde bekannt, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach offenbar Änderungen plant, um damit auf Lieferengpässe zu reagieren. Aus Ministeriumskreisen hieß es Montagabend, damit solle kurzfristig gegengesteuert werden, um einen sehr viel größeren Markt als heute zu erschließen. Für bestimmte Präparate solle künftig das bis zu 1,5-fache des „Festbetrags“ von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden – also des maximalen Betrags, den sie für ein Arzneimittel bezahlen.
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Die Vergütung soll nach einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ nicht nur kurzfristig gelten, sondern Kindermedikamente auch dauerhaft wirtschaftlich attraktiver machen. Das solle dafür sorgen, dass keine Engpässe entstehen. Für bestimmte Krebsmedikamente und Antibiotika für Erwachsene seien ähnliche Maßnahmen geplant. Die Zeitung beruft sich dabei auf ein Eckpunktepapier. „Das wäre auf jeden Fall sehr vernünftig“, sagt Nadja Kaufmann.
Hintergrund: Nachfrage ist enorm gestiegen
Dr. Michael Kuck aus dem Aufsichtsrat der NOWEDA Apothekergenossenschaft, die rund 8000 Apotheken deutschlandweit beliefert, sagte kürzlich im Interview mit dem Stern: „Die Nachfrage nach Fiebersäften und Erkältungsmitteln ist zuletzt enorm gestiegen. Im November 2021 lag der Absatz von Paracetamol Fiebersaft deutschlandweit bei über 45.000 Flaschen, dieses Jahr lag er bei über 330.000. Ein Anstieg von mehr als 780 Prozent. Das ist Wahnsinn. Und so zieht sich das fast überall durch. Natürlich kalkulieren wir Krankheitswellen ein. Aber solche Steigerungen sind wirklich ungewöhnlich.“ Das ganze System sei auf Kosteinsparungen gepolt. „Medizin muss teurer werden. Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, haben uns vollkommen abhängig gemacht, sind hochgradig erpressbar. All das ist seit Jahren bekannt, es passiert nur einfach nichts.“