Menden. . Es waren nur wenige Sekunden, die das Leben dieser Familie komplett auf den Kopf stellten. Zehn Jahre liegt diese schicksalhafte Nacht mittlerweile zurück. Seither ist nichts mehr wie zuvor, die damaligen Zukunftspläne sind für immer zunichte gemacht. Trotz allem: Aufgeben war für die Huckebrinks nie eine Option.

Eigentlich war Daniel mit seinen 17 Jahren gerade in dem Alter, in dem Kinder sich von den Eltern abnabeln und ihren eigenen Weg gehen. Speditionskaufmann wollte der junge Mendener werden.

Schwerverletzt in Dortmunder Klinik

Heute jährt sich der Unglückstag zum zehnten Mal: Am Rosenmontag 2006, um 3 Uhr nachts am 27. Februar, war Daniel mit zwei Freunden im Auto unterwegs. Er saß auf der Rückbank, als der Fahrer die Kontrolle über den Wagen verlor. Der junge Mann starb am Unfallort, der Beifahrer erlitt Schürfwunden und Schnittverletzungen. Daniel wurde schwerst verletzt, erlitt unter anderem ein Schädelhirntrauma. Stunden später in der Dortmunder Klinik baten Ärzten seine Eltern, von ihrem Sohn Abschied zu nehmen.

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Doch das Blatt wendete sich. Daniel lag lange im Koma, er überlebte, kämpfte sich Schritt für Schritt zurück ins Leben. Aber nie wieder zurück in sein altes Leben. Selbstständigkeit ist tabu. Vieles lernte Daniel wieder neu, aber längst nicht alles.

Kurzer Gang zum Bäcker unmöglich

Seine Eltern Heike (52) und Rüdiger (53) Huckebrink können Daniel nie alleine im Haus lassen. Und aus dem Haus schon gar nicht. Ein kurzer Gang zum Bäcker um die Ecke? Für Daniel ein unerreichbares Ziel.

Er würde nicht zurückfinden. Orientierungsvermögen sowie Kurz- und Langzeitgedächtnis machen dem oft so fröhlich wirkenden 27-Jährigen einen Strich durch die Rechnung. An den Unfall und die Zeit danach hat Daniel keine Erinnerung mehr. Was es heute zum Mittagessen gab? Wenige Stunden später sind diese Bilder längst verblasst.

Über die eigenen Belastbarkeit hinaus

Wie gehen Eltern damit um, zu wissen, dass den Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes enge Grenzen gesetzt sind? „Er braucht bei allen Sachen Hilfe“, erklärt seine Mutter Heike Huckebrink. Und dass er diese Unterstützung immer bekommt, steht außer Frage. Bis an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit – und teils darüber hinaus. „Man funktioniert nur noch, da denkt man nicht nach“, erinnert sich Rüdiger Huckebrink an die schweren Monate und Jahre nach dem Unfall.

Irgendwann war die Kraft der Eltern aufgebraucht. Erst zog sich Heike Huckebrink immer mehr zurück, Jahre später kam ihr Mann an seine Grenzen. Depression, Burnout. Beide zogen die Notbremse, suchten sich Hilfe, machten eine Kur, fanden neue Kraftquellen, um den Alltag mit der intensiven 24-Stunden-Betreuung ihres erwachsenen Kindes stemmen zu können. „Man erlaubt es sich nicht, sich einfach hängenzulassen, weil man genau weiß, dass Daniel uns sein Leben lang braucht“, sagt Heike Huckebrink.

Rüdiger Huckebrink arbeitet jetzt als Ergotherapeut

Rüdiger Huckebrink fing beruflich noch einmal ganz von vorne an. Als Daniel verunfallte, arbeitete Rüdiger Huckebrink als Dozent für Kraftfahrzeugtechnik und Gesetzeskunde. Nach dem Unfall absolvierte er eine Ausbildung zum Ergotherapeuten, um auch Daniel besser helfen zu können: „Wenn ich zehn Jahre jünger gewesen wäre, hätte ich Medizin studiert.“ Heute arbeitet er als Ergotherapeut.

Als hätten die Huckebrinks nicht genug Päckchen zu tragen, erlitt Daniel vor eineinhalb Jahren zum ersten Mal einen schweren Krampfanfall. Zufällig entdeckten seine Eltern dies abends, „am nächsten Morgen hätte er nicht mehr gelebt“. Ein weiterer Grand-Mal-Anfall folgte Monate später. Hinzu kommen alle paar Wochen kleinere epileptische Anfälle. „Daniel musste nach dem großen Krampfanfall vieles wieder neu lernen“, sagt Heike Huckebrink. Stets sind seine Eltern in Habachtstellung, „wie er atmet, oder wenn er sich nur im Bett umdreht“. Neben Daniels Bett steht ein Babyphone. Leben im Standby-Modus.

Lebensfrohe Familie

Tagsüber arbeitet Daniel in den Iserlohner Werkstätten, hat dort im vergangenen Jahr eine zweijährige Berufliche Bildungsmaßnahme als Ausbildung abgeschlossen. Die Westfalenpost hat ihn in den vergangenen Jahren dort mehrmals besucht und über seine Fortschritte berichtet. Daniel in ein Behindertenwohnheim zu geben – undenkbar für seine Eltern. Und was wird in einigen Jahrzehnten sein, wenn sie sich nicht mehr selbst um ihren Sohn kümmern können? „Er würde dann ins Heim kommen und unser Haus würde verkauft“, erläutert Rüdiger Huckebrink eine mehrerer Möglichkeiten. „Oder man könnte eine Daniel-Huckebrink-Stiftung gründen und hier im Haus eine Wohngruppe für behinderte Menschen einrichten.“

Wer die Huckebrinks in ihrem Zuhause besucht, trifft auf eine lebensfrohe Familie. Dem Schicksal wird Zuversicht abgetrotzt. „Ich lebe noch, das hätte auch anders sein können“, sagt Daniel mit seinem offenen und freundlichen Lächeln. „Wir lachen so viel wie möglich“, sagt Heike Huckebrink. Da wird – wie in anderen Familien auch – jemand auch mal veralbert und auf die Schippe genommen, niemand wird mit Samthandschuhen angefasst. Dieses Stück Normalität haben sich die Huckebrinks nie nehmen lassen.

Karriere und Geld sind unwichtig

Genauso wie das positive Denken. Als die epileptischen Anfälle auftraten, war den Huckebrinks nach einem Gespräch mit Daniels Neurologen schnell klar: „Wir haben es doch gut. Daniel bekommt ja nur alle paar Wochen kleinere Anfälle. Richtige Epileptiker bekommen mehrere Anfälle am Tag.“

Durch den Unfall hat sich die Lebenseinstellung des Ehepaares grundlegend geändert: „Seit das mit Daniel passiert ist, sehen wir vieles mit anderen Augen. Geld, Karriere – das ist alles unwichtig“, sagt Rüdiger Huckebrink, „Daniel ist ein Beispiel dafür, wie schnell alles vorbei sein kann.“ Akzeptieren, was ist, statt damit zu hadern, was hätte sein können. Kein Planen für die Zukunft, statt dessen einfach Leben im Hier und Jetzt.