Ottfingen. 1980 fand ein Ottfinger einen gewaltsam umgekommenen Säugling. Ein hölzernes Mahnmal erinnert an den bis heute ungeklärten Fall.
Einer der englischen Begriffe, die im Deutschen keine echte Entsprechung finden, ist „cold case“. Wörtlich „kalter Fall“, ist damit ein Kriminaldelikt gemeint, das nicht mehr aktiv verfolgt wird, aber juristisch nicht abgeschlossen ist. Dazu gehören alle Tötungsdelikte, die seit 1979 aufgetreten sind und nicht geklärt wurden – denn in besagtem Jahr änderte der deutsche Bundestag das entsprechende Gesetz und sorgte so dafür, dass ab sofort ein Mord nicht mehr verjähren kann. Bis dahin galt: War ein Tötungsdelikt nach 20 Jahren nicht geklärt, wurden die Unterlagen geschlossen. Seitdem heißt es: Mord verjährt nie.
Was das praktisch bedeutet, erklärt auf Anfrage unserer Redaktion Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss, Pressesprecher der auch für den Kreis Olpe zuständigen Staatsanwaltschaft Siegen. Er erklärt, dass alle offenen Akten in Tötungsdelikten einmal im Jahr geöffnet werden. „Ein Kollege oder eine Kollegin geht die Akte durch und prüft, ob es mögliche neue Ermittlungsansätze gibt“, so Baron von Grotthuss. Dies komme nicht oft vor, aber immer wieder, etwa, wenn durch technischen Fortschritt DNS-Spuren an Asservaten festgestellt werden können, was zur Tatzeit noch nicht möglich war. Bis 100 Jahre reicht dieser Aktenbestand zurück, „danach ist man ja sicher, dass der oder die Täter nicht mehr leben“. Und ergeben sich, etwa durch ein Testament, ein Geständnis oder Ergebnisse anderer Fälle, neue Ansätze, dann wird die jeweilige Akte ohnehin sofort hervorgeholt, um wieder zu ermitteln.
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Auch im Kreis Olpe gibt es Fälle, die unter den Begriff „Cold cases“ fallen. Einer davon bewegte die Menschen im Kreis Olpe im Jahr 1980. Es war der Abend des 5. Juli, als in einem Himbeergestrüpp bei Ottfingen in der Bersmicke unterhalb der Autobahnbrücke der Leichnam eines vier bis sechs Wochen alten Säuglings gefunden wurde. Horst Porwik (✝ 1986), Ottfinger und Bediensteter der Justizvollzugsanstalt Attendorn, entdeckte beim Spaziergang den Körper eines unbekleideten Jungen, der mit einer braunen Kunstfaserdecke zugedeckt war. Eine Obduktion wurde angeordnet. Sie ergab, dass der kleine Junge durch Einwirkung von stumpfer Gewalt auf den Kopf gestorben war. Er war drei bis sechs Tage vor dem Fund ums Leben gekommen.
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Die Staatsanwaltschaft schloss seinerzeit nicht aus, dass sich die Tat hunderte von Kilometern entfernt ereignet hat und der oder die Täter den kleinen Leichnam weit weg transportiert hatten, bevor sie ihn an der Sauerlandlinie ablegten. Eine Belohnung von 2000 DM wurde damals von der Staatsanwaltschaft Siegen ausgesetzt, um Hinweise zu erhalten. Große Hoffnungen wurden seinerzeit auf die Decke gesetzt, in die der Junge eingewickelt war: laut damaligen Angaben der Staatsanwaltschaft eine 1,9 mal 1,5 Meter große Acryl-Velours-Decke; ein Massenprodukt, das an einer Eckkante ein schwarzes Etikett aufwies. Auf diesem war in roter und goldener Farbe mehrsprachig die Wasch- und Pflegeanleitung zu lesen. Am Deckenrand klebte ein kleiner weißer Papierstreifen mit der schwarz aufgedruckten Ziffer „5“, auch war noch der Plastiksplint vorhanden, der das Preisetikett an der Decke befestigt hatte. Dieses Etikett selbst war allerdings nicht mehr vorhanden. Doch alle Nachforschungen verliefen im Sande; die Mutter des kleinen Jungen wurde nie gefunden. Der kleine Junge wurde auf dem Wendener Friedhof bestattet, bis heute erinnert an der Fundstelle ein Bildstock an das tragische Geschehen.
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In seinem Buch „Komm und sieh – Kleine Heiligtümer im alten Kirchspiel Wenden“ hat Dr. Dr. Raimund Quiter (✝ 2021) die bemerkenswerte Geschichte dieses Bildstocks aufgeschrieben: „Aus Dankbarkeit für erfahrene Menschenfreundlichkeit“, so schreibt Quiter, habe ein Gefangener seinem Betreuer Horst Porwik nach seiner Entlassung das aus Eichenholz geschnitzte Erinnerungszeichen geschenkt, das unweit der Fundstelle des kleinen Leichnams an einem Fichtenstamm angebracht wurde. Heinz Gester, vielseitig engagierter Ottfinger, hat dieser Tage bei einem zufälligen Treffen mit Mitarbeitern der Autobahngesellschaft darauf hingewirkt, dass beim bevorstehenden Neubau der Autobahn-Talbrücke der kleine Bildstock beachtet und erhalten wird, was ihm zugesagt wurde. Die Erinnerung an den unbekannten Säugling wird so auch in Zukunft aufrechterhalten. Die Akte des Falls indes liegt bei der Staatsanwaltschaft Siegen nicht mehr vor: Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss geht davon aus, dass nach 30 Jahren im Jahr 2010 entschieden wurde, sie zu vernichten – aufgrund des Verletzungsbildes könne nicht ausgeschlossen werden, dass auch ein Unfall todesursächlich war. Würden doch noch neue Erkenntnisse eingehen, etwa durch ein Geständnis, würde der Fall dennoch neu aufgerollt.