Heggen. Anastasiia Panchuk und Tochter Nadia mussten aus der Ukraine flüchten. Es ist das erste Weihnachtsfest ohne die Familie - in der Fremde.

Normalerweise würde Anastasiia Panchuk an Heiligabend mit ihrer Familie zusammen sein. Zuhause, wo es warm und gemütlich ist. Mit dem bunt beleuchteten Tannenbaum. Normalerweise würde sie mit ihren Verwandten an einem langen Tisch sitzen und sich gegenseitig das Essen reichen. Mit ihnen sprechen, lachen und die gemeinsame Zeit feiern. Normalerweise. Aber in diesem Jahr ist nichts normal für Anastasiia Panchuk. Die 35-Jährige ist mit ihrer fünfjährigen Tochter Nadia aus der Ukraine geflohen. Aus Mykolajiw, ihrer Heimatstadt. Sie haben Krieg, Vernichtung und Mord hinter sich gelassen und Asyl in Heggen gefunden. Doch die Angst ist geblieben. Sie sorgen sich um ihre Liebsten, die in der Ukraine zurückgeblieben sind. Vor allem um Michailo (35), Anastasiias Mann und Nadias Vater.

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Nadia spielt mit zwei anderen Kindern auf der Couch im Spielzimmer, während Anastasiia am Kaffeetisch ihre Geschichte erzählt. Eine Dolmetscherin und eine Übersetzungs-App helfen dabei. „Bomben haben mein Elternhaus zerstört“, erzählt Anastasiia. Sie zeigt die Bilder auf ihrem Handy. Von dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist, sind nur noch verkohlte Trümmer übrig. Ihre Eltern haben überlebt. Der Bombenalarm hat ihnen das Leben gerettet. Auch Michailo, Anastasiia und Nadia wurden schon mehrmals nachts aus dem Schlaf gerissen und mussten einen Schutzbunker aufsuchen. Die Zerstörungswucht, die Angst ums eigene Leben – all das ist allgegenwärtig.

Die Front ist ganz in der Nähe

Mykolajiw wurde zu Beginn des Krieges belagert, aber nicht erobert. Seitdem verteidigen ukrainische Soldaten ihre Stadt. Die Front ist ganz in der Nähe: Rund 30 Kilometer sind es bis zur ukrainischen Gegenoffensive. Hier konzentriert sich die Aggression und brutale Gewalt. Trotzdem: Eigentlich möchte Anastasiia ihre Heimat nicht verlassen. Sie entscheidet sich dennoch für die Flucht. Um Nadia in Sicherheit zu wissen. Mitte August brechen Anastasiia und Nadia aus Mykolajiw auf. Michailo bleibt zurück. Für Männer im wehrfähigen Alter gibt es ein Ausreiseverbot. „Er ist ein Patriot. Wenn er eingezogen wird, dann wird er auch kämpfen“, sagt Anastasiia. Natürlich habe sie große Angst vor diesem Schritt. Aber wenn sie davon erzählt, liegt auch etwas anderes in ihrer Stimme. Entschlossenheit, Stärke, Kampfgeist.

Am 17. August kommen Anastasiia und Nadia in München an. Von hier geht es weiter nach Bochum, Schmallenberg und schließlich nach Heggen. Jeden Tag telefonieren sie mit Michailo. „Er ist mental am Boden. Er vermisst uns sehr“, sagt Anastasiia. Aber er möchte seinem Land beistehen. Er ist Fahrer für ein Transportunternehmen, überliefert Lebensmittel. Teilweise fährt er mit Stirnlampe durch die Gegend, wenn mal wieder großflächig der Strom ausgefallen ist. Momentan habe sich die Lage etwas beruhigt, es schlagen nicht mehr täglich Bomben oder Granaten in Mykolajiw ein. Anastasiia hofft, dass das die Kehrtwende im Krieg ist. „Wenn es die Situation erlaubt, wollen wir im nächsten Jahr wieder zurück in die Ukraine gehen.“

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Zum ersten Mal ist Nadia von ihrem Vater zu Weihnachten getrennt. Im letzten Jahr war noch alles wie immer. An Heiligabend war der Tisch voller Essen. Anastasiia, die als Köchin in einem großen Unternehmen arbeitete, bereitete alle Speisen zu. Traditionell sind es zwölf Gerichte, die aufgetischt werden, als Anlehnung an die zwölf Apostel. Frikadellen, Fisch, Salate und gefüllte Rouladen werden dann serviert. Und Kutja, eine Art süßer Brei aus Weizenkörnern, Rosinen, Walnüssen, Mohn und Honig. „Ich mag das nicht besonders“, meint Anastasiia und lacht. Aber es gehört eben zu Weihnachten. Genauso wie Wodka, mit denen sich die Erwachsenen zuprosten.

Geschenke erst in der Silvesternacht

In der Ukraine gibt es Geschenke erst in der Silvesternacht. Dann geht Ded Moroz (zu Deutsch: Väterchen Frost) mit seiner Enkelin Snegurotschka (zu Deutsch etwa „Schneemädchen“) von Haus zu Haus und legt die Geschenke unter den Weihnachtsbaum. Letztes Jahr hat er Nadia Barbies mitgebracht, für Anastasiia gab es eine vollautomatische Küchenmaschine, für Michailo Werkzeug. Es war eine glückliche, unbeschwerte Zeit.

Die ehrenamtlichen Helfer des DRK geben ihr Bestes, um in der Flüchtlingsunterkunft in Heggen Licht in die dunkle Zeit zu bringen. Im Foyer gibt es einen geschmückten Weihnachtsbaum, in der vergangenen Woche haben sie eine Weihnachtsfeier veranstaltet. Dafür haben die Bewohner zusammen Wareniki zubereitet, Teigtaschen mit einer Kartoffel-Zwiebel-Füllung. Auf dem Gelände hinter der Unterkunft wurde eine Feuertonne aufgestellt, an der die Bewohner Stockbrot und Marshmallows rösten konnten. Dazu gab es warmen Apfelsaft, Punsch und Borschtsch. Ein bisschen Heimatgefühl. Trotzdem: Eine festliche Stimmung kommt bei Anastasiia nicht auf. Wie auch, wenn der Großteil der Familie um das eigene Leben fürchten muss.

„Ich bin sehr dankbar, dass Deutschland uns aufgenommen hat und wir hier in Sicherheit sind“, sagt Anastasiia. Doch für Weihnachten hat sie nur einen Wunsch: Frieden. Um wieder mit Nadia zuhause sein zu können. Vereint mit Michailo.