Attendorn. Michael Schikowski hat in der Buchhandlung Frey neue Bücher für den Herbst vorgestellt. Ein buntes Potpourri literarischer Kunst.
Erzählt ein Roman eigentlich die Wahrheit? Eine Frage, über die sich der Kopf zerbrechen lässt. Natürlich kann die Geschichte frei erfunden sein. Ein völlig fiktiver Handlungsstrang. Aber ist es deswegen gelogen? Wie viel Wahrheit steckt trotzdem zwischen den Zeilen? Zeilen, die von Menschen verfasst wurden. Zeilen, die von der Zeit geprägt sind, in der der Autor lebt und aufgewachsen ist. Es sind seine Erlebnisse, seine Erfahrungen, auf dessen Basis die Geschichte entsteht. Ist das Erfundene also gleichzeitig wahr? Vielleicht eine höhere Wahrheit? „Wenn Ihnen jetzt der Kopf schwirrt, haben wir den Zweck des Abends schon erreicht“, sagt Michael Schikowski und schmunzelt.
Schikowski steht an einem Rednerpult. Neben ihm ein Stapel Bücher. Nicht irgendwelche. Es sind ausgewählte Werke, die der Literaturexperte aus Köln heute mitgebracht hat. Für diesen besonderen Abend. Die Auftaktveranstaltung für die Kooperation der Buchhandlung Frey in Attendorn und der Westfalenpost im Rahmen von „Südwestfalen liest“ (unsere Zeitung berichtete). Unter dem Titel „Alles erfunden – alles wahr“ stellt er die Neuerscheinungen für den Herbst vor. Einige Zuhörer sind gekommen. Gespannt blicken sie zum Rednerpult. Ein Glas Wein in der Hand. Stille in der Buchhandlung Frey. Dann beginnt Michael Schikowski zu erzählen.
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Er nimmt die Zuhörer mit in ein buntes Potpourri literarischer Kunst. Es geht in unterschiedliche Zeitzonen wie die Eiszeit. Es geht nach Russland, in die Ukraine – und nach Japan. Es geht um die Generation der Jugend, die Generation der Boomer. Und die kuriose Welt der Fantasy. Romane, Erzählungen, Krimis – und auch Sachbücher hat er dabei. Es sind Auszüge aus Büchern, die er vorliest. Charakteristische Passagen. Sie treffen den Kern der Werke. Mal ernster, mal humorvoll. Mal bedrückend.
Mit Tanya Pyankova und „Das Zeitalter der Roten Ameisen“ geht es in die 30er-Jahre der Ukraine. Eine Zeit der Hungersnot in der Sowjetunion. Millionen verhungerten. Eine Geschichte, die kaum aktueller sein könnte. In dem Buch geht es um eine junge Frau, die versucht, ihre Familie am Leben zu halten. Verzweifelt. Der Hunger setzt ihr zu. Gleichzeitig will eine wohlhabende Dame – nur wenige Kilometer entfernt – in einer Klinik Gewicht verlieren. Unfassbare Gegensätzlichkeit. Absurd. Michael Schikowski liest aus dem Nachwort der Autorin, die 1985 in der Ukraine geboren wurde. Sie erzählt von ihrer Großmutter, die sie immer mit in den Wald genommen hat. Pilze, Beeren, Sträucher sammelten sie. Ständig habe sie gefragt, „Oma, was sollen wir mit dem ganzen Unkraut?“. Ihre Großmutter hatte es nie eilig mit einer Antwort. Sie lächelte vielsagend. Damals war der Autorin nicht klar, dass sie am Abend die Geschenke des Waldes gemeinsam verzehrten. „In den Hungerkatastrophen lernte man, alles Mögliche zu verwerten“, erzählt Michael Schikowski.
Um ein „vollkommen groteskes Bild der reichen Gesellschaft“ in einem Luxusrestaurant in Russland geht es in Iwan Schmeljows Werk „Der Mensch aus dem Restaurant“. Mit „Mildred“ von Rebecca Donner geht es in die Welt der Sachbücher. Genaugenommen um die Frage, was darf eigentlich das Sachbuch? Und wo liegt der Unterschied zum Roman? „Um das zu verstehen, muss man sich fragen, wo liegt eigentlich die Gemeinsamkeit?“, sagt Michael Schikowski. „Und das ist die Imagination, die nötig ist, einen Text zu schreiben. Egal, ob es ein Roman ist oder ein Sachbuch.“ Ralf Rothmanns „Die Nacht unterm Schnee“ ist ein Panorama der frühen Nachkriegsjahre. Das Porträt einer Frau, der stets die Angst im Weg steht. Julia Friese erzählt in „MTTR“ das Leben einer Mutter. Ein Leben, das der gesellschaftlichen Norm entspricht – aber herausfordernd ist. Nicht nur wegen der Tipps der Schwiegereltern.
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Es sind kurze Einblicke, die der freie Verlagsvertreter, der schon viele Leseabende veranstaltet hat, seinen Zuhörern bietet. Kurz, aber prägnant. Kurz, aber eindrucksvoll. Kurz – und schnell. Zum Lesen haben die Zuhörer danach noch Zeit. Nach den letzten Worten von Michael Schikowski. Nach dem letzten Glas Wein. Zuhause in Ruhe – und langsam. „Das macht was mit einem, wenn man langsamer liest“, sagt Schikowski. „Man bekommt mehr mit.“ Weniger handlungsorientiert. Mehr in der Geschichte selbst. Mehr in der Interpretation der Worte. Ein Mittel der Entschleunigung – in einer Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint.
Erzählt ein Roman nun tatsächlich die Wahrheit? Eine Frage, die sich wohl jeder nach dem Leseabend selbst beantworten kann. Nur so viel ist wohl klar: Ein Roman ist mehr als eine fiktive Reihung von Worten.
Vielschichtig. Mehrdeutig. Und mit jedem weiteren Mal immer wieder neu zu erleben.