Olpe. Jette Jorjan hat ein neues Buch rausgebracht. Eine Sammlung von Gedichten rund um die Trauerarbeit. Dort stecken persönliche Abschiede hinter.
„Bist du der Wind, der in Bambuszweigen raschelt, sie gleichmäßig im Takt hin und her schaukelt? Bist du das Rotkehlchen, das sich ohne Scheu in meiner Nähe auf dem Zaunpfahl niederlässt? Bist du die Farbenpracht...“ – Henriette Jorjan versagt die Stimme. Sie sitzt im Schaukelstuhl, Kater Rokinjo liegt in ihrem Arm und sie liest aus ihrem neuen Buch vor. Es sind Gedichte, die sie verfasst hat. Eine Sammlung von Gedanken rund um die Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen. „Mit dem Buch werde ich nie eine Lesung machen können“, sagt die Autorin und putzt sich die Nase. Denn hinter ihren Gedichten stecken viele persönliche Abschiede.
Henriette Jorjan, die alle nur Jette nennen, ist 68 Jahre alt und lebt zusammen mit ihrem Mann Volker und derzeit vier Katzen in Olpe. Sie hat schon einige Bücher geschrieben, hat im vergangenen Jahr einen Gedichtband rund um ihre Samtpfoten veröffentlicht (unsere Zeitung berichtete). Doch dieses Werk ist für Henriette Jorjan ein ganz Besonderes. Es ist die Essenz einer zehn Jahre andauernden sukzessiven Arbeit. Es ist das Ergebnis ihrer eigenen Trauerarbeit. „Ich bin mittlerweile in einem Alter angelangt, wo ich mich von vielen Menschen verabschieden musste.“
In Erinnerung an ihre Mutter
Die Autorin streichelt ihrem Kater sanft über das Fell. Rokinjo schnurrt, während Henriette Jorjan weiter aus ihrem Buch liest. „Bist du die Farbenpracht hoch oben am Himmel, wenn der Abend den Tag zur Nacht begleitet? Bist du ein Himmelsmaler, wenn Wolken Bilder zeichnen, mir unsere Geschichte erzählt?“ – dieses Gedicht hat sie in Erinnerung an ihre Mutter geschrieben. Dreieinhalb Jahre hat sie sie gepflegt, damals noch parallel zu ihrer Arbeit als Übersetzerin und Sekretärin bei Eurodrill in Drolshagen. Viel Zeit hat sie bei ihr im Hospiz verbracht – bis sie dort in ihren Armen friedlich eingeschlafen ist. „Ich habe damals gespürt, dass meine Mami mich braucht, bevor das Hospiz angerufen hat“, erinnert sie sich. „Ich habe das Gefühl gehabt, ich wäre in einem Ammenschlaf. Man wird so aufmerksam und feinfühlig.“
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Vor vielen Jahren hat Henriette ein Buch gesucht, das sie im Rahmen eines Trauerfalles verschenken wollte. Und hat keins gefunden. Alle waren zu düster, zu schwermütig, erzählt sie. „Man sitzt doch eh schon in einem tiefen Loch“, sagt die Olperin. Also fing sie selbst an zu schreiben. Entstanden ist ein Werk ohne religiösen Bezug. „Trost-Gedichte“ nennt sie die Ergebnisse. Es ist keine heitere, fröhliche Poesie, die die Menschen zum Lachen bringt. Dennoch sind es helle Metaphern, positive Worte, die sie verarbeitet – Verse, die die Menschen weinen lassen. „Man muss die Tränen zulassen“, sagt Henriette Jorjan. „Es hilft dabei, mit der Trauer umgehen zu können.“
Der Titel „Augen vor Tränen fast blind“ ist im vergangenem Jahr entstanden. Im Februar ist die Tochter ihrer Cousine gestorben. Ganz plötzlich. Mit 38 Jahren. Ein Herzinfarkt. Henriette Jorjan hat ihr jede Woche Trost-Gedichte geschickt. Endlich konnte sie weinen, hatte ihre Cousine ihr erzählt. Auch Henriette Jorjan ist immer wieder den Tränen nah. „Das Korrekturlesen war seelisch sehr anstrengend“, sagt sie. „Bei einigen Gedichten war ich so nah an der Vergangenheit, dass ich das Gefühl hatte, gleich ruft das Hospiz an.“
Für die beste Freundin
Henriette Jorjan blättert weiter durch ihr Buch. Das Cover ist bewusst freundlich gehalten, ein strahlend blauer Himmel, nur vereinzelt ziehen Wolken vorbei. Bei einem Gedicht hält sie inne. Sie hat es in Erinnerung an ihre beste Freundin geschrieben. Sie kannten sich aus dem Studium. Siegfriede ist vor neun Jahren gestorben. Ganz allein und einsam in ihrem Zuhause. Die Polizei musste die Tür aufbrechen. Sie ist an einem Schlaganfall und einem Herzinfarkt gestorben. Einige Tage lag sie dort. 64 Jahre alt ist sie geworden. Henriette Jorjan liest vor: „Verzeih mir, weil ich nicht bei dir sein konnte. Meine Hände deine Hände nicht berührten. Jeden harten Knochen fühlten unter dieser Haut aus Pergament, wie Perlmutt, blau gefärbt die Adern. Verzeih mir, weil meine Fingerspitzen, dir die Angst von deiner Stirn nicht streicheln konnten. Glatt wie kalter Marmor...“
Die Autorin hält inne. Kater Rokinjo streckt seine Tatzen. Tränen stehen in ihren Augen.