Wetter. Lehrer in der Klasse auf einem Podest? Diesen alten Zopf haben Gymnasiasten 1964 mit Erfolg abgeschnitten - und mit einem besonderen Lehrer.
Mit einem Gefühl des Aufbruchs sind die Erinnerungen an die „wilden 60er“ verbunden. Einerseits herrschten damals noch strenge gesellschaftliche Regeln und meist konservative Ansichten bei Eltern und Lehrern. Andererseits spürten die Jugendlichen den Wunsch nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Sie wollten mitbestimmen und drückten das in Form von ersten Protestbewegungen aus. So geschehen bereits 1964 am städtischen Gymnasium in Wetter, damals noch am See. Motto: „Jugend macht Protest - weg mit dem Podest!“ Schüler und der Lehrer von damals schmunzeln noch heute.
Alte Fotoserie wect Erinnerungen
Ulrich Weishaupt, mittlerweile Herdecker und Kenner der Kino- und Heimatgeschichte, war damals Schüler der Untersekunda (10. Klasse) in Wetter und hat bei der Aktion mitgemacht. Auf der Suche nach Dokumenten für das 150. Schuljubiläum des Geschwister-Scholl-Gymnasiums im letzten Jahr fand er eine alte Fotoserie. Weishaupt schildert die Ereignisse vor 60 Jahren so:
„Im März 1964 führten wir diese Podest-Aktion durch. Uns nervte schon seit Jahren das ständige Knarren, Knacken und Quietschen, wenn die Lehrer auf den alten Holzpodesten vor den Tafeln hin- und hergingen. Noch mehr störte uns, dass sie dabei so gebieterisch auf ihr ,Schülervolk‘ herab blickten. Das passte uns gar nicht mehr! In der letzten Woche vor den Osterferien wollten wir unseren Plan umsetzen: Die zwei Mitschüler, die zum ,Tafeldienst‘ eingeteilt waren und - wie damals üblich - in der großen Pause im Klassenraum bleiben durften, kletterten mehrmals aufs Pult und sprangen mit voller Wucht auf die Holzplanken des Podests. Nach einigen Sprüngen zerbrachen endlich einige der langen Bretter.“
Schüler wollten auf Augenhöhe sein
Klassenlehrer Friedhelm Freudewald, damals 34 Jahre jung, ertrug die „Schadensmeldung“ durch Klassensprecherin Susi Schleier mit Fassung, berichtet Weishaupt weiter. Dennoch sah sich Freudewald in arge Verlegenheit gebracht, auch wenn „das Zertrümmern des Podests in der Luft gelegen hat“, wie er heute noch weiß. Dank seines diplomatischen Geschicks aber – Friedhelm Freudewald war damals auch Vertrauenslehrer der Schülermitverwaltung – hat er die Sache regeln können: Freudewald schlug eine Bestrafung vor, die allgemein akzeptiert wurde.
Dabei waren die Ängste der Schülerinnen und Schüler zunächst groß. „Wir rechneten mit einer harten Bestrafung“, erinnert sich Uli Weishaupt. Befürchtet wurde eine Verschiebung der Zeugnisausgabe oder gar eine Aberkennung der „Mittlereren Reife“. Doch es gab weder Tadel per Post an die Eltern noch Nachsitzen, keine Verhöre und nicht einmal eine Klassenkonferenz! Das „Urteil“ von Friedhelm Freudewald: „Alle Jungen der Untersekunda wurden dazu verdonnert, das schwere Podest zu entsorgen.
Mit dem Monster durch die Stadt
„Am letzten Schultag mussten wir nach der Zeugnisausgabe das zirka 50 Jahre alte Monstrum durch die ganze Stadt schleppen“, erinnert sich Weishaupt. Das hieß: Die Gustav-Vorsteher-Straße entlang, über die Kaiserstraße, die wie heute wieder eine riesige Baustelle war, bis hin zum Bauhof bei der Firma Krimmel & Co vor dem REME-Werk.
Der Grund für die „schnieke“ Kleidung bei der Transportaktion: „Wegen der Zeugnisverleihung zur ,Mittleren Reife‘ trugen wir an diesem Tag alle ,edlen Zwin‘: weiße Nyltest-Hemden, schmale Krawatten, Sakkos, Hosen mit Bügelfalte und glänzend polierte Lederschuhe“, so der Zeitzeuge. Die Wilden sechziger Jahre mit Jeans und langen Haaren begannen erst 1968. So bekam die erste Podest-Beerdigung eine feierlich stilvolle Note.
Ein gut gehütetes Geheimnis
Die Schüleraktion aus dem März 1964 blieb nicht ohne Wirkung. Sie hat offenkundig zu einem Umdenken im Kollegium des Gymnasiums geführt, denn in den Sommerferien 1964 wurden dann alle Podeste von städtischen Mitarbeitern aus den Klassenräumen entfernt. Seit 60 Jahren begegnen sich nun also Lehrerschaft und Schülerschaft auf Augenhöhe. Die beiden „Pultspringer“ sind bis heute nicht verpfiffen worden. Auch nicht von Lehrer Freudewald.