Herdecke/Ennepe-Ruhr. Nebenwirkungen von Arzneimitteln werden häufig nur bei Männern erforscht. Das kann gefährlich sein. Prof. Dr. Petra Thürmann erklärt die Gründe.
Männer und Frauen reagieren oft unterschiedlich bei Erkrankungen und auf Therapien. Prof. Dr. Petra Thürmann, Vizepräsidentin der Universität Witten/Herdecke, will auf diese Diskrepanz aufmerksam machen und ist Mitbegründerin des Netzwerks Geschlechtersensible Medizin NRW.
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„Als ich 1997 meine Antrittslesung in Frankfurt zum Thema ,Die Frau in der klinischen Forschung’ gehalten habe, war das ein sehr exotisches Thema“, erklärt Thürmann und verweist auch gleichzeitig darauf, wie lange sie sich bereits mit der Geschlechtermedizin beschäftigt. Und wie dringend notwendig das ist, macht sie gleich an mehreren Beispielen klar: „Die meisten Forschungsergebnisse über Nebenwirkungen bei Medikamenten beziehen sich hauptsächlich an den Testungen bei Männern“, sagt sie.
Schwangere werden ausgeklammert
Der Grund sei sehr einfach: Frauen werden für die ersten Studien ausgeklammert, weil sie schwanger werden könnten. „Nach den Conterganerfahrungen ist das ein absolutes Ausschlusskriterium“, berichtet Thürmann. „In die verschiedenen Phasen der Arzneimittelprüfung werden etwa 3000 bis 5000 Menschen einbezogen, bevor die Medikamente auf den Markt kommen. In der Phase 1 sind dies in der Regel gesunde Männer jüngeren Alters. Bei den späteren Phasen, in die Patienten einbezogen werden, kommen auch Frauen hinzu, aber da werden bestimmte Dinge nicht mehr getestet, wichtige Informationen gehen verloren“, weiß Thürmann. In den USA seien beispielsweise Blutdrucksenker meist an Veteranen getestet worden. Auch an Cholesterinstudien hätten größtenteils nur Männer teilgenommen.
Ergebnisse sind ein Flickenteppich
In der Praxis führe das dazu, dass es einen Flickenteppich an Erkenntnissen gebe. „Viele Menschen wissen in der Zwischenzeit, dass sich ein Herzinfarkt bei Frauen mit anderen Symptomen äußern kann als bei Männern. Aber das lässt sich auch auf viele andere Krankheiten übertragen“, so Prof. Dr. Thürmann. Das hänge oftmals mit dem Immunsystem zusammen, das bei Frauen anders funktioniere als bei Männern. „Es ist allgemein bekannt, dass eine rheumatoide Arthritis wesentlich mehr Frauen betrifft. Das wird jeder Arzt bestätigen, aber bisher hat sich kaum jemand Gedanken darum gemacht, warum das so ist“, schildert Thürmann das Problem. Dabei könnten diese Erkenntnisse und damit verbundene Untersuchungen zu gezielteren Therapien führen.
Unterschiedliche Symptome
Ein weiteres Beispiel sind Depressionen. Die können sich bei Männern und Frauen recht unterschiedlich äußern. „Frauen mit Depressionen ziehen sich meist zurück, Männer neigen häufiger zu Gewalt oder Alkoholkonsum“, weiß Thürmann. Bei den Corona-Impfungen habe sich gezeigt, dass junge Männer, die Nebenwirkungen zeigten, eher zu Herzmuskelentzündungen neigten, bei Frauen waren es Hirnthrombosen. „Eine Frage, mit der sich ebenfalls noch niemand beschäftigt hat, zu der es aber bereits Studien gibt, ist, warum Frauen, die wegen Covid auf einer Intensivstation beatmet werden mussten, bessere Überlebenschancen hatten als die Männer“, berichtet Thürmann.
Ärztinnen stellen Blutzuckerspiegel besser ein
Jedoch betrifft die Gendermedizin nicht nur die Patienten, wie die Professorin weiß. „Inzwischen ist belegt, dass weibliche Ärzte den Blutzuckerspiegel besser eingestellt bekommen als die männlichen Kollegen.“ Das wiederum könnte daran liegen, dass die Ärztinnen in der Regel besser zuhören. Andererseits gebe es jedoch auch spezifische Probleme, mit denen alle Ärzte, egal ob männlich oder weiblich, zu kämpfen haben, und das sind die unterschiedlichen Schilderungen der Patienten. „Schmerzen werden anders lokalisiert oder beschrieben, obwohl sie das gleiche Krankheitsbild haben“, weiß die Uni-Vizepräsidentin.
Morphine wirken bei Frauen besser
Bei allen offenen Fragen gibt es aber auch schon ein paar Antworten und Erkenntnisse, beispielsweise bei höher dosierten Schmerzmitteln wie Morphinen. „Der Morphin-Rezeptor ist bei Frauen dreidimensional anders“, weiß Prof. Dr. Thürmann. Das bedeutet, dass der Wirkstoff, der in den Körper gelangt, bei Frauen viel besser andocken kann als bei Männern. Dementsprechend bräuchten Frauen eine niedrigere Dosierung. „Standard sind eigentlich 10 Milligramm, bei den meisten Frauen würden jedoch 8 Milligramm vollkommen ausreichen“, so die Expertin. Aber: „Es gibt nicht den 100-prozentigen Mann oder die 100-prozentige Frau“, sagt Thürmann. Daher müsse auch immer individuell geschaut werden.
Noch viel zu tun
Das neugründete Netzwerk hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, das wichtige Thema mehr in den Fokus zu rücken und insbesondere auch an die Studierenden weiterzugeben. „Inzwischen gibt es Lehrbücher, Fachartikel und Vorlesungen zu dem Thema“, freut sich Thürmann. Dennoch gebe es weiterhin viel zu tun, denn viele – auch gerade ältere, männliche Kollegen – täten sich weiterhin schwer mit dem Thema. „Trotzdem bin ich optimistisch, dass wir auf einem guten Weg sind. Es hat sich in den vergangenen Jahren viel getan, und inzwischen werden auch Gelder in die Forschung investiert.“