Herdecke/Witten. Helfen viele Tabletten alten Menschen auch viel? Mit dieser Frage beschäftigten sich Experten der Uni Witten/Herdecke. Hier gibt es die Antwort.

Montag, Dienstag, Mittwoch…..In Pillendosen werden sie nach Tagen und Tageszeiten sortiert, damit ihre Einnahme zur rechten Zeit geschieht und vor allem nicht gänzlich vergessen wird. Oftmals ist es ein ganzer Tabletten-Cocktail, den alte Menschen täglich zu sich nehmen. Nun haben sich Wissenschaftler in einem Forschungsprojekt Cofrail der Universität Witten/Herdecke mit der Frage beschäftigt, ob ältere Patientinnen oder Patienten, die fünf oder mehr Medikamente einnehmen, öfter oder seltener ins Krankenhaus kommen, wenn sie einen Teil ihrer Medikamente auf ärztlichen Rat absetzen? Die Redaktion hat darüber mit dem Leiter der Studie, Prof. Dr. Achim Mortsiefer vom Institut für Allgemeinmedizin und Ambulante Gesundheitsversorgung der UWH gesprochen.

Gibt es auf die Ausgangsfrage zu Ihrem Forschungsprojekt eine eindeutige Antwort?

Prof. Achim Mortsiefer: Die gibt es. Sie lautet: Nein. Ältere Menschen kamen in unserer Studie nicht eher ins Krankenhaus, wenn sie weniger Tabletten nahmen, sofern das vorher mit den Angehörigen sowie der Hausärztin bzw. dem Hausarzt im Rahmen einer Familienkonferenz besprochen wurde.

Können Sie kurz erläutern, was sich hinter Familienkonferenz verbirgt?

Im Alltag sieht eine Familienkonferenz so aus, dass der Hausarzt bzw. die Hausärztin zum Hausbesuch bei den Patient:innen kommt und dazu auch die pflegenden Angehörigen einlädt. Zusammen sehen sie sich die Liste der verschriebenen Medikamente an. Beispiel Bluthochdruck: Alle Medizinerinnen und Mediziner versuchen, den Blutdruck – oftmals unter Einsatz von Medikamenten – auf unter 140 einzustellen und zu halten. So steht es in den Leitlinien.

Und dann können alte Menschen die Pille gegen den Bluthochdruck einfach absetzen?

Für einige Seniorinnen und Senioren ist es besser, den Blutdruck nicht ganz so streng einzustellen. Wir wissen, dass Medikamente gegen Bluthochdruck in höherem Lebensalter oft stärker wirken und so das Sturzrisiko steigern sowie Schwindel und Benommenheit auslösen können. All das gilt es in einer Familienkonferenz zu besprechen und zwischen Nebenwirkungen und Nutzen abzuwägen: Was führt zu der bestmöglichen Lebensqualität für die Patientin oder den Patienten?

Aber alte Menschen bzw. deren Angehörige machen sich doch dann bestimmt Sorgen, oder?

Medikamente wegzulassen klingt in den Ohren Vieler erst mal bedrohlich und nach einem gesundheitlichen Risiko. Aber in der Medizin gibt es oft die Situation, dass wir die gewollte Wirkung eines Medikaments sehr genau abwägen müssen mit ungewollten Nebenwirkungen, die bei älteren Menschen häufiger vorkommen. Und da hilft es, das zeigt unsere Studie, miteinander zu reden, um eventuelle Sorgen auszuräumen. Und genau das ist genau das ist das Ergebnis unserer Studie Cofrail, an der unter anderen die Uni Witten/Herdecke beteiligt war.

Gibt es dazu Info-Material, dass der Allgemeinheit zugänglich ist?

Ja, unsere Forschungsgruppe hat ein Video ins Netz gestellt, dass eine Familienkonferenz zeigt (https://www.cofrail.com/cofrail-demonstrationsrvideo). Infos zum Projekt finden sich unter https://www.cofrail.com Zudem wurde am Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie der UWH ein detaillierter Leitfaden zum Absetzen von Medikamenten für Hausärzte entwickelt, dessen Veröffentlichung bevorsteht.

Wer war an der Studie beteiligt?

Es waren 114 Hausarztpraxen und 623 Patientinnen und Patienten mit geriatrischem Frailty-Syndrom und Polypharmazie über Hausarztpraxen aus dem Raum Düsseldorf und Rostock einbezogen. Die Projektleitung lag bei Prof. Dr. med. Stefan Wilm von Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Beteiligt war außerdem Prof. Dr. med. Petra Thürmann, Lehrstuhl für klinische Pharmakologie an der Universität Witten/Herdecke. Die Ergebnisse von Cofrail wurden bei einer Abschlusstagung im Juni der Fachöffentlichkeit präsentiert. Die Studie wurde aus öffentlichen Geldern (Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses https://www.g-ba.de/) von 2018 - 2021 gefördert.