Herdecke. Für Sabine Jessinghaus von der Schrabergschule in Herdecke ist Grundschule ein Spiegel der Gesellschaft – mit einem ganz besonderen Problem

Wie sieht es an den Grundschulen aus? Was kann helfen? Sabine Jessinghaus, Leiterin der Schrabergschule, gibt Antwort.

Nach neuen Untersuchungen soll sich die Zahl der Kinder, die am Ende der Grundschule nicht richtig lesen und schreiben können, noch einmal erhöht haben. Können Sie diesen Trend bestätigen?

Diese Frage ist mit einem eindeutigen „JA“ zu beantworten. Dieser traurige Trend hat nicht nur mit Corona zu tun, sondern ist in meinen Augen eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Familien verbringen heute deutlich weniger Zeit miteinander, es wird weniger (vor-)gelesen, die Digitalität fördert auch nicht unbedingt Lesekompetenz. Ebenso wird heute viel weniger geschrieben, statt Postkarte oder Brief gibt es eine Sprachnachricht oder was auf WhatsApp, wo Rechtschreibung kaum eine Rolle spielt.

Was genau geht auf Corona zurück?

Die Pandemie und die Zeit des Distanzlernens haben deutliche Spuren hinterlassen. Besonders im jetzigen Jahrgang 2 merkt man große Defizite im Bereich sprachlicher Bildung, Die Kitas waren lange geschlossen, und der Bereich Sprachbildung kam so schon im vorschulischen Bereich zu kurz. Hier müssen wir deutlich mehr Zeit investieren. Aber auch im Bereich des sozialen Lernens gibt es coronabedingt große Lücken, die geschlossen werden müssen, um erst einmal ein gutes Lernen zu ermöglichen.

Welche Rolle haben die Flüchtlingskinder?

Bei den Flüchtlingskindern ist es letztlich nicht viel anders als bei unseren Schulkindern. Je nach Voraussetzungen lernen sie schon in einem halben Jahr die neue Sprache so gut, dass eine Verständigung gut möglich ist. Auch hier muss man ganz individuell auf die Voraussetzungen schauen. Bei den ukrainischen Flüchtlingen ist manchmal festzustellen, dass die Lernbereitschaft nicht so groß ist, da oft die Hoffnung besteht, bald wieder in die Heimat zurückzukommen.

Muss bereits vor der Schule eine bessere und verbindlichere Förderung beginnen?

Die Kitas haben die Verpflichtung zur Sprachförderung, der sie natürlich auch nachkommen. Auch hier greift die Argumentation der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Zudem gibt es immer noch Kinder, die die Kitas nur ein Jahr besuchen, da nur das letzte Jahr vor der Einschulung verpflichtend ist. Sorge bereitet mir mehr der zunehmende der Personalmangel, da dadurch Sprachförderung sicherlich zu kurz kommt.

Was bringt es, Schule mehr „von unten“ zu denken, also nicht so sehr auf Regelstandards zu achten, sondern mehr auf Mindeststandards bis zum Ende der vierten Klasse?

Vom Grundsatz her ist es so, wie es in den Schulen angelegt ist, gut und sinnvoll. Wir holen die Kinder da ab, wo sie stehen. Hierzu tauschen sich Kitas und Schulen intensiv aus, bieten gemeinsame Elterngespräche und vieles mehr an. Viele Diagnostiken, vor allem in den Eingangsklassen, helfen dabei den individuellen Lernstand zu erfassen und darauf aufzubauen. Anstatt schriftliche Leistungsüberprüfungen auszubauen, halte ich mehr davon, die Kinder zu mehr selbstständigem und eigenverantwortlichem Lernen mit Lehrerin oder Lehrer als Lernbegleiter anzuleiten. Mehr Leistungsüberprüfungen machen keine besseren Schüler.

Ist das Prinzip „Kurze Beine, kurze Wege“ wirklich sinnvoll, wenn dadurch bestimmte Schulen in bestimmten Vierteln mehr Schüler mit Förderbedarf haben und andere dafür traditionell gut dastehen?

Vom Grundsatz halte ich das Prinzip für genau richtig. Kinder sollen auch nach der Schule die Möglichkeit haben, sich mit Klassenkameradinnen und- kameraden zu treffen, einen gemeinsamen Schulweg haben. Wichtig wäre, Schulen mit hohem Migrationshintergrund personell gut auszustatten und die Klassen klein zu halten. Dies wird ja auch schon umgesetzt, jedoch wird der Lehrermangel diese Grundvoraussetzungen sehr erschweren.

Studie deckt Schwächen auf

Nach einer im Sommer vorgestellten Studie schneiden Jungen und Mädchen am Ende von Klasse vier deutlich schlechter ab als noch vor fünf Jahren.

Das gilt fürs Zuhören, fürs Lesen, in Mathematik und bei der Rechtschreibung.

In Deutsch und Mathe hat zudem der Anteil der leistungsstarken Schüler, die den Regelstandard erreichen oder übertreffen, abgenommen.

Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) hatte zum dritten Mal im Auftrag der Kultusministerkonferenz untersucht, inwieweit Viertklässlerinnen und Viertklässler die bundesweit geltenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) in den Fächern Deutsch und Mathematik für den Primarbereich in den Ländern erreichen.

Die Daten zum IQB-Bildungstrend 2021 wurden zwischen April und August 2021 erhoben, ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie.

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