Herdecke. Freiwilliges Engagement als Privatperson: Dennis Neunzig (Leiter Ordnungsamt Herdecke) hilft seit Monaten Flutopfern im Ahrtal. „Oft emotional.“
Das Hochwasser im Juli hat das Leben vieler Menschen gravierend verändert. Teilweise auf dramatische Art und Weise. Dennis Neunzig musste sich zunächst beruflich mit den Folgen der Flut beschäftigen. Seit März 2021 leitet er das Ordnungsamt der Stadt Herdecke und musste seinen Urlaub abbrechen, als hier die Überschwemmungen den Bachplatz und andere Orte erreichten. „Das war heftig, das werde ich nie vergessen. Was Wasser alles anrichten kann...“
Der Abend und die kurze Nacht vom 14. auf den 15. Juli bildeten den Auftakt für intensive Wochen, in denen sich auch Herdeckes Ordnungsamt um Schicksale und Sachschäden kümmern sollte. „Viele sind in dieser Zeit über sich hinaus gewachsen. Erfreulich war, dass sich die Leute gegenseitig unterstützten“, sagt Dennis Neunzig. Er selbst war froh, auch mal anpacken zu können, beispielsweise bei der Sicherung einer Ufermauer in der Schmalen Straße.
Dieser Hilfsimpuls sollte kurz darauf zu ungeahnten Aktivitäten führen. „Ich bekam von einem Kumpel, der für das THW Köln im Hochwasser-Einsatz war, Fotos aus dem zerstörten Altenahr zugeschickt. Da war für mich klar: Ich muss da hin fahren“, so Neunzig. Der 37-Jährige setzte sich ein paar Tag später mit Christina Soliga, seiner Cousine aus Hattingen, in ein besonderes Auto. Ford hatte Leihwagen unentgeltlich zur Fluthilfe angeboten. Diesen beklebte das Duo, so dass dieser Pkw auch heute noch auf Parkplätzen in Herdeckes Innenstadt auffällt.
Finanzielle Hilfe für Helfer
Vor drei Wochen war Neunzig zuletzt im Ahrtal, bald fährt er erneut hin. Denn: „Es gibt dort nach wie vor sehr viel zu tun, Helfer haben ihre Grenzen neu definiert. Bei manch einem Anblick konnte ich das Feuerzeug zum Zigarette-Anzünden nicht halten, der Schock hat mich zittern lassen.“Wer die Gruppe „We ahr here“ mit Geldspenden unterstützen will, kann den 37-Jährigen kontaktieren (Mail: dennis-neunzig@ herdecke.de). Sobald die gemeinnützige Gesellschaft, die seine Cousine und eine Freundin leiten, offiziell gegründet ist, kann diese Quittungen erstellen.
Dennis Neunzig nahm 2021 nach dem Sommer seinen gesamten Jahresurlaub, um als Fluthelfer im Ahrtal Betroffene unterstützen zu können. Im Herdecker Rathaus begrüßen die Verantwortlichen dieses private Engagement eines besonderen Ehrenamtlers. Das begann dann so: Er fand mit seiner Cousine über Facebook einen Bauernhof in Sinzig zur Übernachtung. Am 30. Juli fuhren die Beiden erstmals in die zerstörte Region, im geliehenen Auto befanden sich Idealspaten, Schaufeln, Äxte, Frischobst und gespendetes Material, etwa aus einer Drogerie in Hattingen. „Vor Ort stellte sich heraus, dass besagter Bauernhof auch abgesoffen war. Die ersten Nächte verbrachten wir in einer Scheune.“
Erster Einsatzort: die Barbarossaschule in Sinzig. Mit Gummistiefeln und weiteren Helfern, darunter Motorsportfreunde, räumten sie an jenem Wochenende den Keller aus und pumpten Unmengen Schlamm ab. „Schon da entwickelte sich das Gefühl, dass ein paar Tage nicht ausreichen.“
Sechs Monate später stehen Neunzig und seine Cousine kurz vor der Gründung einer gemeinnützigen Gesellschaft. Über diese Einrichtung, zu der die genannten Motorsportfreunde sowie insgesamt 140 Mitglieder gehören und die vielfältige Verbindungen auch zu Baufirmen unterhält, wollen sie künftig die Unterstützung organisieren. Der Name dieses Bündnisses zur Katastrophenhilfe beinhaltet ein Wortspiel: We ahr here.
Wiederaufbau dauert noch jahrelang
Auch 2022 will Herdeckes Ordnungsamts-Leiter möglichst unbürokratisch Flutopfern im Ahrtal helfen. Das sei nötig. „Entsetzt“ war Neunzig, als er erstmals den Umfang der Schäden erahnen konnte. Sprachlos war er, als er in Altenahr den katastrophalen Zustand und die Reste eines Tunnels sah. In den letzten Monaten half er auch in Dernau („Da sind 75 Prozent der Häuser betroffen“) und in Marienthal. Die Gruppe um ihn als Koordinator wuchs an, sie kann über zwei Firmen Radlader und schweres Gerät beschaffen. „Wer es nicht selbst gesehen hat, kann sich das Ausmaß der Zerstörung nicht vorstellen. Für mich ist das Engagement zu einer Herzensangelegenheit geworden, wir haben viele Betroffene kennengelernt, zu anderen Helfern sind Freundschaften entstanden.“ Als Schlafstätte dient mittlerweile ein Gemeindehaus in Neuwied.
Neunzig ging im Sommer davon aus, dass er ein paar Tage ins Ahrtal fahren würde und dann wieder in sein normales Leben zurückfindet. Doch als er und viele Freiwillige zum Beispiel eine Sporthalle in Sinzig entkernt hatten („Wir standen schulterhoch im Schlamm“), kam ein Gefühl auf: Die Hilfe muss weiter gehen. Zuspruch bekam der 37-Jährige aus seinem Umfeld, so dass er bis Oktober jedes Wochenende in den zerstörten Städten verbrachte und auch einen Weihnachtsmarkt für 5000 Flutopfer in Dernau mitorganisierte. „Dafür hatten wir um Wunschzettel gebeten. Als ein Kind schrieb, dass es sich seine ertrunkene Mutter zurückwünscht, flossen bei uns allen die Tränen.“
Ebenfalls sehr emotional: „Wir wollten mal ein beschädigtes Haus ausräumen, ehe wir den Hinweis erhielten, dass die Besitzer im Hochwasser gestorben sind.“ Solche Erlebnisse zeigen die Dimension der Flutkatastrophe im Ahrtal und die enge Verbindung, die Neunzig zu den Menschen dort aufgebaut hat. Er selbst war abends oft fix und fertig. Körperlich kaputt (Rückenschmerzen), nervlich angeschlagen. „Viele brauchen auch Leute zum Reden. Was man da erfährt, geht einem sehr nahe. Umso ergreifender sind Dankschreiben, da werden auch harte Kerle weich.“