Herdecke. Im verwaisten Café Erste Sahne treffen zwei Stammtisch-Vertreter auf die Café-Inhaberin. Da wird schnell klar, wie sehr die Gastronomie fehlt.

„Ich hätte gern eine Waffel und dazu einen grünen Tee“, sagt Dr. Rutger Booß. Dann gibt Liesel Frese ihre Bestellung auf: „Und ich möchte ein Veggiemett-Brötchen und einen Kaffee.“ Karin Schumacher, Inhaberin des Cafés Erste Sahne in der Fußgängerzone, nickt und lacht. Wie gerne hätte sie die Herdecker Senioren schon vor einer Woche beim Ortstermin in ihrem leeren Café bewirtet. Und wie sehr vermissen die ihren wöchentlichen Stammtisch...

Treffen im verwaisten Café

Was vor einer Woche noch streng verboten war, ist inzwischen teilweise wieder möglich – was die lange Zeit der Entbehrungen aber keineswegs schmälert.

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Daher erzählen wir dennoch unsere Stammtisch-Geschichte. Sie beginnt mit einem Treffen im Café Erste Sahne mit Erlaubnis der Stadtverwaltung: Zwei Mitglieder der eigentlich neunköpfigen Runde und Gastronomin Karin Schumacher dürfen teilnehmen. Das Café in der Fußgängerzone war seit Anfang November geschlossen. Wie fühlt es sich an, in einem verwaisten Café zu sitzen? Welche Gedanken schwirren durch den Kopf? Und wie groß ist die Vorfreude auf normale Zeiten auf beiden Seiten?

Herdecker zeigen deutlichen Gastro-„Entzug“

Tatsächlich ist die Sehnsucht bei den Jüngeren bis 40 Jahren am größten: 89,4 Prozent geben im großen Corona-Check unserer Zeitung an, Besuche in Cafés und Restaurants stark zu vermissen – mehr sogar als die Treffen mit Freunden oder der Familie. Aber auch 77,3 Prozent der Herdecker über 60 zeigten mit ihren Antworten einen deutlichen „Entzug“ von Restaurant- und Cafébesuchen. Zu dieser Gruppe gehören Liesel Frese (76), Rutger Booß (77) und der Rest ihres Stammtisches.

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Der besteht aus drei Ehepaaren sowie drei weiteren Herdeckern, die sich stets allein dazu gesellen. Seit rund einem Jahrzehnt kommen sie einmal die Woche zusammen – etliche Jahre lang immer donnerstags, am Markttag.

Leute treffen und beobachten

Mit dem Wechsel des Cafés ging auch ein Wechsel des Wochentags einher, weil bei Karin Schumacher der Donnerstag einfach voll war. „Aber nach Corona werden die Karten ja neu gemischt, vielleicht gibt es dann für uns wieder donnerstags ein Plätzchen“, hofft Liesel Frese. Denn Leute treffen und beobachten, dafür ist der Markttag besser als alle anderen. „Der Clou ist, dass uns trotz unterschiedlicher Erwerbsbiografien das Interesse an der kommunalpolitischen Diskussion zusammengeführt hat“, so Rutger Booß. Und, so fährt er fort: „Wir sind alle Zeitungsleser und auch Abonnenten. Deswegen ist auch das, was dort steht, oft Gegenstand unserer Diskussionen.“

Bedeutung auf vielen Ebenen

Alle aus der Runde sind älter als 70 Jahre – bis auf ein „Nesthäkchen“, das erst 64 ist. „Der Älteste ist mit 78 Jahren mein Mann, Dieter Frese“, verrät Liesel Frese. Sie erinnert sich, dass die Stammtisch-Treffen im letzten Jahr von Mitte Mai bis Ende Oktober stattfinden konnten: „Danach war Schluss. Es war so ein schöner Sommer, und wir haben draußen am Tisch mitten auf der Straße gesessen. Da sieht und trifft man so viele Leute.“ Für sie haben die Stammtisch-Treffen Bedeutung auf vielerlei Ebenen: „Das reicht vom Austausch von pragmatischen Alltagsdingen über Reiseerlebnisse bis hin zum politischen Austausch.“ Als Gruppe hätten sie darüber hinaus runde Geburtstage oft zusammen gefeiert und auch gemeinsam Ausflüge gemacht – etwa zu Musikfestivals oder in das kleine Häuschen von Rutger Booß in der Eifel.

Schauen, dass es allen gut geht

Irgendwie sei der Stammtisch so etwas wie ein sozialer Umschlagplatz, meint Liesel Frese. Rutger Booß nickt und ergänzt: „Also wir leiden jetzt nicht an Einsamkeit. Aber wir legen Wert darauf, dass es uns allen gut geht.“ Sehr witzig und lustig gehe es in der Regel bei ihren Zusammenkünften zu, die durch Corona so herbe ausgebremst wurden. „Und wir treffen uns nicht heimlich nachts zu irgendwelchen Orgien“, so Booß schmunzelnd. Beklagen wollen er und Liesel Frese sich dennoch nicht: „Uns Rentnern geht es gut. Wir haben keine finanziellen Sorgen.“

Wieder Gäste im Freien bewirten

Das sähe bei Café-Betreiberin Karin Schumacher anders aus, wenn da nicht ihr Mann wäre: „Ich habe das große Glück, dass mein Mann verdient. Sonst hätte ich es nicht geschafft.“ Von Anfang November bis letzten Sonntag war ihr Café geschlossen. Keine Stammtische, keine Stammgäste. Sie hat an den Fixkosten nachgebessert, vom Personal sind einige nicht mehr da, andere in Kurzarbeit. Auf die neuen Lockerungen hat die Gastronomin fix reagiert und am Sonntag im Freien wieder erste Gäste begrüßt. „Ziemlich problematisch“ sei das nach wie vor. Aber es werde besser – und so können sie auch ihre Stammtische unter Einhaltung der aktuellen Regeln nun wieder bewirten. Worauf sie sich sehr freue.

Ach ja: Neue erfahrene Mitarbeiter, die kann Karin Schumacher auch gebrauchen.

Zwei weitere Stammtische und was sie vermissen

Generationen übergreifend ist der Stammtisch, der jeden Donnerstag am Weinlokal „Korkenzieher“ auf dem Kampsträter Platz in Herdecke zusammenkommt. Vorausgesetzt, es ist nicht gerade Corona-Zeit. 56 Jahre alt ist die Jüngste, 91 der Älteste aus der munteren Truppe. „Immer nach dem Einkauf auf dem Wochenmarkt treffen wir uns bei Kristina Klein auf ein Gläschen Wein und etwas zu Essen. Wir sind alle sehr traurig, dass das schon so lange nicht mehr geht und hoffen, dass es sich bald wieder ändern wird“, sagt Frank Gautzsch, in Wetter lebender Herdecker und ehemaliger Leiter der WP-Lokalredaktion Wetter/Herdecke. Der Stammtisch habe für alle eine große soziale Komponente: „Wenn einer fehlt, kümmern sich die anderen. Jeder weiß immer, was der andere macht. Kommunikation ist uns wichtig. Unser Markt-Stammtisch ist wie eine große Familie.“ Zu Beginn der Pandemie haben sich alle noch regelmäßig bei einem virtuellen Stammtisch am Telefon getroffen. Das sei dann nach einer gewissen Zeit etwas eingeschlafen, so Frank Gautzsch. Die Whatsapp-Gruppe bestehe aber weiterhin, so dass jeder zumindest über diesen Kanal immer auf dem aktuellsten Stand sei. „Und wir haben uns untereinander natürlich, soweit es die Corona-Regeln erlaubten, auch privat getroffen“, so der Wetteraner weiter.

Freuden und Sorgen teilen

Großen Stammtisch-Entzug meldet auch die inzwischen nur noch fünfköpfige Frauenrunde um die Herdeckerin Margrit Sollbach-Papeler: „Wir alle vermissen das regelmäßige Treffen, das Austauschen und überhaupt die persönliche Nähe sehr. Das Telefonieren und das Schreiben von Mails sind kein wirklicher Ersatz, das ist die einhellige Meinung.“

Regelmäßig hat sie sich mit ihren Freundinnen vor der Pandemie montags, mittwochs und freitags getroffen. „Einige von uns waren zuvor im Fitnessstudio am Zweibrücker Hof. Anfangs haben wir uns nur im Café Kornspeicher getroffen. Wenn dort geschlossen war, sind wir meistens im Eiscafé auf dem Kampsträter Platz gewesen, aber auch im Café Erste Sahne in der Fußgängerzone. Geburtstage haben wir zusammen an verschiedenen Orten in Herdecke, aber auch in Witten und Wetter gefeiert.“

Margrit Sollbach-Papeler weiß, wie sehr die regelmäßigen Treffs ihrer Frauen-Runde fehlen: „Vor allem denjenigen, die alleine leben und deren Kinder berufstätig sind und auch nicht so oft kommen können, fehlt das Zusammensein, wo man seine Freude mitteilen, aber auch seine Sorgen abladen kann, sehr.“ Zumal ja auch alle anderen Möglichkeiten, sich mit Bekannten und Freunden zu treffen, wegen der Pandemie stark eingeschränkt waren und teils auch jetzt noch sind.

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