Herdecke. Geduldet, gleichgestellt, verfolgt, vergessen - Willi Creutzenberg hat ein Buch über drei Jahrhunderte einer Minderheit in Herdecke geschrieben.
Ein Schutzbrief für Marcus Joseph aus dem Jahr 1663 markiert den Anfang der Juden in Herdecke, im Jahr 1939 war auch der letzte vor den Repressionen der Nationalsozialisten aus der Kleinstadt Herdecke gewichen. Über die Geschichte der jüdischen Minderheit in Herdecke seit dem 17. Jahrhundert hat Willi Creutzenberg jetzt ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel: „Schutzjuden - Bürger - Verfolgte - Vergessene.“ Auf über 200 Seiten erzählt der ehemalige Geschichtslehrer Creutzenberg eine äußerst wechselvolle Geschichte, die beinahe bis in die Gegenwart führt.
Spätestens mit der Enthüllung der Gedenktafel für die Opfer des Holocaust auf dem alten jüdischen Friedhof an der Bahnhofstraße sei klar geworden, dass Herdecke auch eine jüdische Geschichte habe, erinnert sich Willi Creutzenberg an den November vor fünf Jahren. Die Tafel enthält eine Liste von 19 ermordeten Menschen mit jüdischem Glauben, die einen engen Bezug zu Herdecke hatten. Teils sind sie in Herdecke geboren, teils haben sie lange in der Stadt gelebt, teils war es der letzte frei gewählte Wohnsitz. „Fast 70 Jahre mussten vergehen, ehe die Stadt und ihre Bürger bereit waren, sich mit diesem Ergebnis der nationalsozialistischen Politik auseinander zu setzen“, steht unter einem Foto der Gedenktafel - nicht die einzige kritische Anmerkung im Buch.
Den Bezug von großer Politik und städtischem Leben stellt auch Professor Diethard Aschoff in seinem Geleitwort her. Creutzenbergs Buch mache deutlich, „wie im ,kleinen Raum’ plötzlich weitreichende Umschwünge eintreten“. Der Herausgeber der Schriftenreihe über Geschichte und Leben der Juden in Westfalen weiter: „Es sind keine Automatismen, sondern Menschen, die Entscheidungen treffen und dabei zugleich immer Themen aus größeren Zusammenhängen in ihre Welt übersetzen.“ Und so weist Creutzenbergs Buch immer wieder über die Grenzen der Stadt hinaus.
Teil der Gemeinschaft
Der Titel gibt die Abfolge der Kapitel vor: Lange gab es gegen Geld Schutzbriefe vom Landesherrn. Die Zeit der „Schutzjuden“. Der große Kurfürst zeichnete den Brief für Marcus Joseph, den ersten Juden, der sich in Herdecke niederlassen durfte. Der Siegeszug Napoleons 150 Jahren später brachte den Juden in Deutschland eine rechtliche Gleichstellung wie zuvor schon in Frankreich. Die Zeit der Bürger. Zur Emanzipation der Juden gehörte auch die Niederlassungsfreiheit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wächst die Zahl der Juden in der Stadt auf 50 bis 60 an. Es gibt eine kleine Gemeinde. Der Gebetssaal ist im Haus der Familie Marx. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wird das Haus für einen besseren Verkehrsfluss durch die City abgerissen. Das Bistro „Sonne“ steht heute auf einem Teil des Grundstücks.
1933 rissen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland an sich. Die Zeit der Verfolgten. Ja, NS-Propaganda gegen die Juden habe es gegeben, in Herdecke aber keine antisemitische Bewegung. Die Ausgrenzung vollzog sich auf leisen Sohlen. „Heute würde man sagen: Die jüdischen Familien waren völlig integriert.“ In den Nachbarschaften waren sie aktiv oder in den Turnvereinen, und das mitunter auch an der Spitze.
Lange Zeit ein weißer Fleck
Ab dem Frühjahr 1939 allerdings lebte kein Jude mehr in Herdecke. Die letzten sind nach Köln gezogen, eine große Stadt, in der sie auf ein unauffälligeres Leben hofften. Andere wanderten aus, nach England oder Argentinien. Von Herdecke aus ist niemand in ein Vernichtungslager deportiert worden. Von Köln und anderswo aus haben Juden aus Herdecke dieses Schicksal doch erlitten.
„Da war gar nichts“, sagt Willi Creutzenberg über die Erinnerung an diese Geschichte und Geschichten bis hinein in die achtziger Jahre. Von den „Vergessenen“ handelt der letzte große Abschnitt seines Buches. Bei den politisch Verfolgten war das anders. Als die NS-Zeit vorbei war, kamen sie zurück auch nach Herdecke und sprachen über ihr Leid. Willi Creutzenberg: „Die Juden aber sind nicht wieder zurück gekommen, höchstens als Besucher. Es ist nichts Öffentliches passiert.“
In den letzten Jahren ist das anders gewesen. Mittlerweile hat es eine Einladung an Opfer und Nachfahren gegeben. Der Besuch und die Geschichten der Opfer, die Creutzenberg zusammengetragen hatte, standen am Anfang seines jetzt erschienenen Buches. Nicht nur die NS-Zeit wollte er aufarbeiten, auch das Vorher und Nachher der Juden in Herdecke hat ihn interessiert.
Seit 1979 lebt Creutzenberg in Herdecke und ist seitdem eine treibende Kraft der Erinnerung.