Herdecke. Gutachter Prof. Jarass erklärt im Rat und vor Bürgern im Gymnasium, dass der Ausbau von Stromtrassen in Herdecke und generell unplausibel sei.
Ein intensiver Abend. Erst im Rat, dann beim Bürger-Dialog in der Aula der Friedrich-Harkort-Schule stellte Prof. Dr. Lorenz Jarass Ergebnisse seines Gutachtens zur geplanten 380-Kilovolt-Stromtrasse von Dortmund-Kruckel bis Dauersberg in Rheinland-Pfalz vor. Eingeladen hatten ihn die Prozessgemeinschaft Herdecke unter Strom und Bürgerinitiative (BI) Semberg, die gleichgesinnte Gruppen aus Hohenlimburg und aus Junkernhees im Kreis Siegen-Wittgenstein begrüßen konnten. Politiker und rund 120 Zuhörer im Gymnasium erfuhren, dass der Experte die Erforderlichkeit der neuen Leitungen, die der Netzbetreiber Amprion in Herdecke bereits vorbereitet, für fraglich hält.
Die Argumentation
Jarass hat sich nach eigenen Angaben mit aktuellen Erkenntnissen des Netzentwicklungsplans beschäftigt und zweifelt auf dieser Basis den Beschluss der Bezirksregierung an, die Amprion 2018 für den Abschnitt über Herdecke bis Hagen-Garenfeld grünes Licht gab. In der Genehmigung fehle der Bezug zum 2019 beschlossenen Kohleausstieg im Jahr 2035, daher sei das von Bürgermeisterin Katja Strauss-Köster geforderte Moratorium nachvollziehbar. „Dass das Abschalten von Kohlekraftwerken keine Auswirkung auf das Netz haben soll, ist unglaubwürdig.“ Laut Prognose produzieren Kraftwerke in 16 Jahren 3,6 Mal mehr Strom aus erneuerbaren Energien, als durchschnittlich gebraucht würde (derzeitiger Faktor 1,9). Die Leitungsüberschüsse exportiere Deutschland immer öfter für derzeit sehr niedrige Preise in benachbarte Länder.
Grundsätzliche Problematik
„Der geplante Netzausbau ist kohle-getrieben. Die neuen Leitungen dienen überwiegend dem Transport von überschüssigem Strom“, sagte der Professor. Der Gutachter bemängelt zudem, dass dabei die entstehenden Kosten von insgesamt rund 95 Milliarden Euro (sechs Milliarden pro Jahr) unberücksichtigt bleiben und vom Verbraucher bezahlt werde.
Kritik der Herdecker Grünen im Ratssaal und in der Aula
Andreas Disselnkötter von den Grünen forderte ebenso wie später sein Partei-Kollege Peter Gerigk in der FHS, das Gutachten zu veröffentlichen. Aus prozess-taktischen Gründen geschehe das wohl erst nach der Anhörung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 12. Dezember, lautete die Antwort.
Nachdem Disselnkötter Jarass angesichts anderer Meinungen in der Debatte mit einem „Geisterfahrer“ verglichen hatte, fragte er nach einem bisher unveröffentlichten Schreiben von NRW-Wirtschaftsminister Pinkwart, wonach die Leitung Kruckel-Dauersberg benötigt werde. Deutlicher wurde sein Fraktionskollege Klaus Reuter, der die Bürgermeisterin fragte, ob sie das Thema zu einem „persönlichen Anliegen“ machen wolle.
Katja Strauss-Köster erwiderte, dass sie verschiedene Stellungnahmen sammele und diese bald als Paket zur Verfügung stelle.
„Wir brauchen eine europäische Lösung, der Export ist keine. Die Energiewende ist nur dann sinnvoll, wenn Nachbarländer mitmachen. Auch den Netzbetreibern wird mittlerweile schummrig, da sie ja laut Gesetz zum Bau verpflichtet sind. Aber bei Dunkelflauten, wenn also bei bestimmten Wetterlagen über Tage wenig Strom produziert wird, nutzen neue Leitungen gar nichts.“ Diese könnten im Übrigen auch als Erdverkabelungen entstehen, dies habe die nordrhein-westfälische Landesregierung aber „verschlafen“. Auch für Teile Herdeckes sei solch eine Lösung aufgrund der „massiven Belastung“ von Bürgern sinnvoll.
Die Herdecker Situation
Die Begründung der Bezirksregierun zur Genehmigung der 380-kV-Trasse von Kruckel bis Garenfeld, wonach diese auch langfristig die Stromversorgung im Großraum Dortmund/Hagen sichere, hält Jarass für „unplausibel und unbelegt“. Kritisch sieht er zudem, dass die im Energieleitungsausbaugesetz festgelegten Abstände von 200 Metern zu Häusern bzw. 400 Metern zu Wohnbebauungen „deutlich unterschritten und manche Gebäude sogar komplett überspannt“ werden. Dadurch sinke vielfach der Grundstückswert. „Die Leute hier lassen sich einiges gefallen. In meiner langen Gutachter-Tätigkeit habe ich es noch nicht gesehen, dass durch ein dicht besiedeltes Gebiet derzeit vier Leitungen führen. Und wenn man dann neu baut, dann doch wohl so, dass die Gegend und die Menschen weniger belastet werden. Anderswo würde das mittlere Volksaufstände auslösen.“ Die derzeitigen Leitungen würden ausreichen: Jarass kenne keinen Beleg, wonach beispielsweise das Sauerland ohne das Aufrüsten auf 380 Kilovolt Versorgungsprobleme bekomme.
Reaktionen von Bürgern
Während Detlef Plett von der BI Semberg rückblickend schilderte, „wie schlecht wir Bürger informiert wurden“, fragte ein Vertreterin der Hohenlimburger Initiative „No Monstertrasse“, wie der Gutachter die Herdecker Klagechance am Bundesverwaltungsgericht einstuft. „Denn auch wir sind wild entschlossen, die Leitungen bei uns zu verhindern.“ Angesichts geringer Kenntnisse könne Jarass die Aussichten in Leipzig nicht beurteilen, gleichwohl verwies er auf erfolgreiche Einsprüche von Bürgern. Was er diesen im weiteren Vorgehen empfehlen könne, wollte Claudia Scholten von der Gruppe „Hohenlimburg unter Hochspannung“ wissen. Antwort vom Professor: „Wenn die Bundes- und Landesregierung sowie die Netzbetreiber bauen wollen, führen Klagen meist nur zu Verzögerungen. Wir können aber schon mal Willkür nachweisen.“ Generell gehe es um präzise und nachvollziehbare Argumente, die aber nicht Anwohner vorbringen müssten. Und im aktuellen Prüfbericht der Bundesnetzagentur sei die Notwendigkeit der geplanten Leitung Kruckel-Dauersberg für Jarass nicht ausreichend dargestellt.