Herdecke. . Für die Ermittler sind die Vorwürfe haltlos. Eine Mutter gibt den Widerstand dennoch nicht auf. Das Jugendamt erklärt: Es muss auch Wächter sein.

  • Die Vorwürfe sind nicht neu und von den Ermittlern bereits zu den Akten gelegt
  • Dennoch macht eine Mutter dem Herdecker Jugendamt Vorwürfe zur Inobhutnahme
  • Nun gibt es in Hagen eine Demonstration. Das Amt sieht keine Fehler

Ein knappes Jahr ist es her, dass auch der Fernsehsender RTL über Vorwürfe von Müttern gegen das Herdecker Jugendamt berichtete. Dabei ging es unter anderem um die Wegnahme von Kindern aus ihren Familien. Strafrechtlich war damals schon klar, dass an dem Verhalten der Jugendamtsmitarbeiter strafrechtlich „nichts auszusetzen war“, so Oberstaatsanwalt Gerhard Pauli, „die Betroffenen waren aber nicht einsichtig“.

Auch eine Beschwerde blieb erfolglos. Weitere Vorwürfe fußten „auf reinen Mutmaßungen“, so Pauli weiter. Nun hat eine der Mütter, Gülsüm Aslan, einen Fachanwalt für Sozialrecht eingeschaltet.

Vorwurf der Erpressung

Der Bereich Inobhutnahme sei so etwas wie „der Hochsicherheitstrakt in Jugendämtern“, sagt David Meyer, der beauftragte Anwalt. Hier werde der Datenschutz besonders hoch gefahren. Schon das Reden über Fälle innerhalb des Amtes könnte da ein Gesetzesverstoß sein, wenn die Eltern dazu nicht ausdrücklich die Genehmigung gegeben hätten. Und der Austausch mit einem anderen Jugendamt sei noch viel problematischer.

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Nur in einem einzigen Fall habe sie den Mitarbeiter des Jugendamtes von der Schweigepflicht entbunden, so Gülsüm Aslan, und das auch schnell wieder zurück genommen. Sie hält – mittlerweile nach Hagen gezogen – an den Vorwürfen fest, die sie schon vor einem Jahr erhoben hat: Der Jugendamtsmitarbeiter habe gewollt, dass der Vater die Kinder bekomme. Dass ihre Jüngsten „dreckig und voll gekotet“ gewesen sein sollen, „das stimmt alles nicht“, so die 33-Jährige Mutter von sechs Kindern. Der Opferschutz Ennepetal habe sich gekümmert und ihre Verwandtschaft auch. „Es gab nie eine Kindeswohlgefährdung“, versichert sie und spricht von Beweisen, dass der Jugendamtsmitarbeiter sie erpresst habe. Auf diese strafrechtliche Spur will sich ihr Anwalt nicht begeben. David Meyer folgt einer andere Fährte. Um zu entscheiden, ob der gerichtliche Weg vielversprechend ist, brauche er noch Informationen. Die bezögen sich beispielsweise auf die Mitarbeiter des Jugendamtes, die mit dem Fall betraut waren. Sie müssten in Belangen des Datenschutzes ausgebildet und fortgebildet sein.

Schadensersatz angepeilt

Die Stadt Herdecke hält dagegen. Bei der Fortbildungen in Sachen Datenschutz hätten die Mitarbeiter keine Defizite, heißt es auf Nachfrage: „Sämtliche datenschutzrechtliche Vorgaben wurden eingehalten. Es fanden keine amtsinternen Gespräche über den Fall statt, die eine Erlaubnis der Erziehungsberechtigten erfordert hätten“. Auch mit anderen Jugendämtern hätten keine Gespräche stattgefunden, die dem Datenschutz widersprochen hätten. David Meyer will auch bei der„persönlichen Eignung“ ansetzen. Zumindest in einem Fall sieht der Dortmunder Anwalt Ansätze, hier Fragen zu stellen. Die Stadt sieht das gelassen: „Der Mitarbeiter besitzt nicht nur die erforderliche Ausbildung, sondern auch ein hohes Maß an Erfahrung“.

Sieht sich Meyer im Fortlauf seiner Spurensuche dennoch bestätigt, könnte ein zivilrechtliches Verfahren folgen. Wird am Ende festgestellt, dass Entscheidungen rechtswidrig waren, sind sie nicht automatisch hinfällig. David Meyer weiß sehr wohl: „Die Behörde könnte dann einen anderen Mitarbeiter benennen, der die nötige Eignung hat“, und in der Sache bliebe alles beim Alten. Die Feststellung einer Unrechtmäßigkeit könnte allerdings zu Schadensersatz oder Schmerzensgeldzahlungen an seine Mandantin führen.

Dazu braucht er zunächst einmal Akteneinsicht. Dafür will Gülsüm Aslan am 18. Januar um 17 Uhr streiten. Sie hat eine Demonstration vor dem Hagener Hauptbahnhof angekündigt. Unterstützt werde sie dabei von der UETD, der Union Europäisch-Türkischer Demokraten. Die Demo solle auch andere, die schlechte Erfahrungen mit dem Herdecker Jugendamt gemacht hätten, darin bestärken, „sich nichts bieten zu lassen“.

Wächteramt für das Kindeswohl

Ein Gespräch mit Jugendamtsleiterin Renate Stöver

Jugendämter haben notgedrungen zwei Gesichter. Bei ihnen sind Leistungen abrufbar. Dann sind die Eltern Partner auf Augenhöhe und können etwas verlangen. Die Ämter haben aber auch eine Wächterfunktion.

Im Interesse der Kinder „müssen wir manchmal in die Privatsphäre der Menschen eingreifen, wenn die Verhältnisse gerade am Schwierigsten sind“, weiß Renate Stöver, Leiterin des Jugendamtes in Herdecke. Jahrelang war sie im Allgemeinen Sozialen Dienst des Amtes, auch heute geht sie noch manchmal mit raus, wenn es um die schwierigste aller Fragen geht: Ist es für ein Kind besser, wenn es aus seiner Familie genommen wird, oder sollte es nicht doch besser bleiben, selbst wenn es Probleme gibt, auch größere?

Mitarbeiter gehen im Team raus

Renate Stöver ist Leiterin des Jugendamtes in Herdecke
Renate Stöver ist Leiterin des Jugendamtes in Herdecke © Privat

Ein bis zwei Inobhutnahmen bei kleinen Kindern hat es über die letzten Jahre im Schnitt gegeben, bei den Älteren sind es mehr. „Aber das ist das letzte Mittel“, so Renate Stöver. Marschrichtung sei immer, „die Familien zu stärken, dass die Kinder in den Familien bleiben.“ Denn für die Jugendamtsleiterin ist klar: „Das beste Heim bietet nicht die Bindung und die Geborgenheit, die ein Kind braucht.“ Und doch gibt es Fälle, in denen das Amt prüft, die Kinder aus ihren Familien heraus zu nehmen. Das sei der Fall, wenn Eltern ihren Aufgaben nicht gerecht würden und auch keine Hilfe annähmen und die körperliche Unversehrtheit des Kindes gefährdet ist.

Wie sehen diese Aufgaben aus? Kinder müssen ernährt werden, gekleidet sein, brauchen einen Schlafplatz. Das klingt nach Selbstverständlichkeiten, und doch gibt es Kinder, die unterversorgt bleiben. Dazu kommt die emotionale Seite. Ein Kind darf nicht abgelehnt werden, auch nicht, wenn die Familie aus mehreren Familien zusammengewachsen ist.

Meist gibt es Meldungen von Nachbarn oder aus dem Kindergarten. Manchmal fällt auf, dass die Eltern länger nicht mehr auf der Bildfläche erschienen sind, manchmal wurden die Kinder schon länger nicht mehr gesehen oder es beunruhigt, dass sie ständig weinen. Es passiert aber auch, dass die Kinder selbst beim Jugendamt Hilfe suchen. „Da kommen dann Fünfzehn- oder Sechzehnjährige und berichten: Es gibt immer Zoff. Ich halte das nicht mehr aus“, weiß Stöver aus der Praxis. In diesen Fällen „schauen wir dann: Was ist da eigentlich los?“

Das Verfahren läuft streng nach Plan. Auf eine Meldung folgt eine Besprechung. Wie ist das Ganze einzuschätzen? Wer geht raus? Wer kann eine Herausnahme vorbereiten? Und immer wieder werde überprüft, ob man noch auf dem richtigen Weg sei. Zu zweit gehen die Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes raus, und natürlich „dürfen und müssen die sich austauschen“, sagt Renate Stöver. Schließlich gebe es ja auch eine gegenseitige Vertretung. Wenn ein Mitarbeiter krank sei oder in Urlaub, könne ein Fall ja nicht einfach liegen bleiben. Der Datenschutz fange woanders an und werde auch eingehalten: Gegenüber einem Sachbearbeiter für Kindergartenfragen blieben die Fürsorgefälle entsprechend Geheimsache. Klar gebe es bei Umzügen in eine andere Stadt eine Fallübergabe, „damit die Familien mit ihren Problemen nicht einfach ausrücken und begonnene Hilfeleistungen nicht unterbrochen werden“, so Renate Stöver.

Bei Verbleib bleibt auch das Risiko

Seit über 30 Jahren arbeitet sie im Jugendamt. „Die Probleme sind in diesem Zeitraum andere geworden“, sagt sie: „Es gibt mehr Eltern mit psychischen Erkrankungen und mehr Kinder mit psychischen Auffälligkeiten.“

Es hätten sich aber auch sehr viel breitere Möglichkeiten der Unterstützung entwickelt. Die Jugendämter könnten auf mehr Partner zurückgreifen mit Einrichtungen, die den Familien Hilfe bieten. Und dennoch bleibe es ein schmaler Grat, auf dem sich die Jugendämter bewegen, wenn das Kindswohl die Messlatte ist. Renate Stöver hat dann durchaus Verständnis, dass das Jugendamt als Feind gesehen wird, der Druck macht: „Oft sind die Beziehungen der Eltern nicht geklärt. Es ist eine Zeit voller Verletzungen, und dann kommt jemand von außen, moderiert und will Vereinbarungen treffen.“

Der Abwägungsprozess ist nicht einfach. Bleiben die Kinder in den Familien, bleibt auch immer ein Risiko. „Ganz entscheidend für uns ist die Einsichtsfähigkeit“, sagt Renate Stöver. Dann können ambulante Hilfe greifen, die Überforderung in den Familie mindern. Bis zu zehn Stunden Hilfe am Tag seien denkbar, mit Erreichbarkeit rund um die Uhr. Der Wächter wolle eben doch auch Helfer sein, so Stöver.