Hagen. Gerd Steuber blickt zurück. Auf 45 Jahre im Dienste der Stadt Hagen. Der scheidende Fachbereichsleiter für Jugend und Soziales geht in Ruhestand. Mit unserer Redaktion hat er über das soziale Hagen in den vergangenen 45 Jahren gesprochen.
Er hat quasi bis zum letztmöglichen Tag gearbeitet. Im Februar wird Gerd Steuber 65 Jahre alt, ein paar alte Urlaubstage wollen noch abgefeiert werden, deshalb hat der Leiter des Fachbereichs Jugend und Soziales schon jetzt den Schreibtisch geräumt. Mehr als 45 Dienstjahre bei der Stadt Hagen liegen hinter dem Boelerheider – im Personalamt, vor allem aber auch im Sozialbereich. Zeit für ein Bilanzgespräch.
Frage: Herr Steuber, Sie haben in den 70er Jahren im Sozialamt gearbeitet, sie leiteten seit 1997 den damals neu gegründeten Fachbereich Jugend und Soziales. Hagen hat seitdem viele Einwohner verloren, die Verschuldung ist gestiegen, die sozialen Herausforderungen sind gewachsen. Ihr Fazit: Ist seitdem alles schlechter geworden?
Steuber: Nein, ganz sicherlich nicht. Viele gesetzliche Neuregelungen sind hinzugekommen. Die Bürger haben heute viel differenziertere Ansprüche auf soziale Leistungen. Ich finde, Hagen kann stolz darauf sein, die erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte, insbesondere den Verlust vieler industrieller Arbeitsplätze und die Aufnahme und Integration vieler Aussiedler, Flüchtlinge und Migranten, gemeistert zu haben. Der soziale Frieden ist erhalten. Wir haben früher mehr den Schwerpunkt darauf gelegt, Menschen mit sozialen Transferleistungen zu versorgen. Heute wird mehr Energie darauf verwendet, präventiv zu wirken.
Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Nehmen wir das Jobcenter für Langzeitarbeitslose, das die Stadt gemeinsam mit der Arbeitsagentur betreibt: Was dort den Menschen als Integrationshilfen angeboten wird, ist heute zielgenauer und passt besser auf die Bedürfnisse der Menschen. Auch die Jugendhilfe ist heute besser mit dem Jobcenter und der Bundesagentur für Arbeit vernetzt, um früher ansetzen zu können, dass Menschen nicht auf soziale Transferleistungen angewiesen sind. Wir praktizieren das in Hagen sogar schon länger als es die Sozialreformen der Agenda 2010 gibt. Wir hatten mit Gründung des Fachbereiches fünf kleine Sozial-Rathäuser in Hagen geschaffen, um vor Ort die Hilfen zu verzahnen. Die mussten wir durch die gesetzliche Neuregelung 2005 dann aber leider wieder abschaffen.
Apropos Agenda 2010: Sie sind privat SPD-Mitglied. Wie fanden und finden Sie Gerhard Schröders Reformpolitik?
Ich bin seit den 70-er Jahren SPD-Mitglied. Ich war damals ein klassischer Willy-Brandt-Wähler. Ich bin auch schon lange Gewerkschafter - in der früheren ÖTV, heute bei Verdi. Das hat sicherlich auch mit meinem generellen frühen Interesse für das Soziale zu tun, das sich in der Ausbildungszeit bei der Stadt und durch Jugendarbeit in der Gewerkschaft vertieft hat. Bei den Hartz-IV-Reformen habe ich allergrößtes Verständnis für die Ängste und den Frust der Betroffenen, die mit Hartz IV einen plötzlichen Abstieg verkraften müssen. Aber die Reformen sind einher gegangen mit einer neuen Art der Förderung und Integrationshilfe. Wenn sich der Einzelne darauf einlässt, erhält er eine bessere individuelle Förderung. Dass dieses System in der Praxis an Grenzen stößt, liegt vor allem an fehlenden Arbeitsplätzen und Ausbildungsplätzen, auch im öffentlich geförderten Bereich.
Sie haben dies als Fachbereichsleiter alles umsetzen müssen…
Ja, und manche gesetzliche Regelung hätten wir uns in der Praxis auch anders gewünscht. Mit den Jugendamtsleitern der Großstädte in Deutschland habe ich oft gefordert: Statt eines höheren Kindergeldes und eines Betreuungsgeldes benötigen wir finanzielle Hilfen für präventive Arbeit. Wir brauchen das Geld für die Verbesserung der Infrastruktur und Beratungsangebote vor Ort. Da gibt es so viele Aufgaben.
Weil es heute mehr „Klienten” des Sozial-Fachbereichs gibt als in Ihrer Anfangszeit zu Beginn der 70-er Jahre?
Ja, wir sind aber auch aufmerksamer geworden, daher ist die Zahl derer gestiegen, die wir als ressourcenarm bezeichnen. Das heißt oft, nicht nur arm an materiellen Mitteln, sondern auch an Bildung und Möglichkeiten der Teilhabe. Diese Verknüpfung wird verstärkt, wenn auch noch der Verlust der Arbeit eingetreten ist. Dann ist es insbesondere für Familien mit Kindern schwerer, aus dieser Lebenslage herauszukommen.
Hagen hat heute mit 38 Prozent an der Gesamtbevölkerung eine viel höhere Migrantenquote als zu Beginn Ihrer beruflichen Tätigkeit. Wie bewerten Sie dies: Großes Risiko für Hagen oder auch eine Chance?
Ganz eindeutig: Eine Chance, davon bin ich überzeugt. Diese Vielfalt beinhaltet Stärken. Wir müssen den Mehrwert der multiethnischen Stadtquartiere entdecken – und es gibt in Hagen viele Beispiele vorbildlicher Integration, die sicherlich noch mehr in den Fokus der Öffentlichkeit geschoben werden müssten. Wir haben in Hagen viel getan: Etwa im Grundschulkinder-Bereich mit Patenschaftsmodellen, mit stadtweiten Angeboten der Sprachförderung schon in Kitas, einer sehr guten Kooperation mit den Migrantenorganisationen und vor allem mit der Aufstellung eines Integrationskonzeptes im letzten Jahr.
Also schon alles in Ordnung?
Natürlich bin ich auch Realist: Es gibt noch viel zu tun. Wir haben unter den Migranten eine noch viel zu geringe Quote bei der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und bei den Bildungsabschlüssen. Da müssen wir die Entwicklung voran treiben, insbesondere im frühkindlichen Bereich – denn da werden die Fundamente, etwa beim Spracherwerb, gelegt. Und wir müssen am Ende der Schulzeit das so genannte Übergangsmanagement noch weiter verstärken, damit niemand nach der Schule auf der Straße sitzt. „Kein Abschluss ohne Anschluss” ist ein solches Programm.
Dazu braucht es mehr Ausbildungsplätze in den Hagener Betrieben. Bietet die Stadt Hagen genug an?
Nein, die Stadt ist da meiner Meinung nach sehr zurückhaltend. Wir haben eine Zeit lang unter dem Spardruck gar nicht ausgebildet. Ich war ja auch einmal Leiter des Personalamtes, ich muss daher sagen: Uns wird irgendwann der qualifizierte Nachwuchs in der Stadtverwaltung fehlen.
Gibt es denn genug Mitarbeiter mit Migrationshintergrund in der Verwaltung?
Nein, ganz sicherlich noch nicht. Eine Verwaltung sollte ja auch ein Spiegelbild der Bevölkerung sein. Da entspricht die heutige Zusammensetzung nicht der Migranten-Quote in Hagen.
Bei vielen Dingen im Sozial -und Jugendhilfebereich setzt die Stadt auf Kooperation mit freien Trägern, um die Leistungen nicht selbst anbieten zu müssen. Hat Sie das immer gefreut?
Prinzipiell hätten wir lieber einen Wettbewerb zwischen städtischen und freien Trägern gehabt. Dass wir die Aufgaben auch gut erledigen können, haben wir immer wieder gezeigt. Aber die Zusammenarbeit mit den freien Trägern ist tatsächlich gut. Sie sind oft auch flexibler als es eine Kommune wie Hagen mit ihren Zwängen sein kann.