Hagen. Was wäre gewesen, wenn? Anja Paul zuckt mit den Schultern. Sie und das ehemalige Café Dickhut an der Elberfelder Straße in Hagen spielten eine nicht unwesentliche Rolle im vielleicht Aufsehen erregendsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte - dem Gladbecker Geiseldrama vor 25 Jahren.

Anja Paul war Anja Ellerkmann. Und sie servierte den Gangstern von Gladbeck und ihren Geiseln am 17. August 1988 fünf Mal das große Frühstück des Hauses. Die Chronik einer vertuschten Fluchtstation und die Rolle einer jungen Kellnerin.

„Ich war stinkig, das gebe ich zu“, sagt Anja Paul. Sie macht heute die „Klamotte“, eine stadtweit bekannte Kneipe im Herzen Hohenlimburgs. An jenem 17. August 1988 hatten sich fünf Gäste erdreistet, 30 Minuten vor Ladenöffnung aufzulaufen und die Küche im Café Dickhut in Schwung zu bringen.

Was Anja Paul, die damals noch Ellerkmann hieß, nicht wusste: Die Herrschaften, denen der Magen knurrte, waren Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner. Die Geiselnehmer von Gladbeck. Und mit am Tisch saßen die beiden Bankangestellten, die Rösner und Degowski am Vortag in Gladbeck als Geiseln genommen hatten. Und die unterwegs zugestiegene Freundin Rösners: Marion Löblich.

Rösner und Degowski kamen nach Hagen

„Es war ein heißer Tag“, erinnert sich die damals 21-jährige Anja Paul. Sie hatte am Abend zuvor vom Geiseldrama in den Medien gehört, die Gesichter von Rösner und Degowski dabei aber nicht gesehen. „Ich hätte das außerdem nie mit Hagen in Verbindung gebracht.“

Besonders bizarr: Unweit des Geisel-Gangster-Tisches plauderte Paul noch mit ihrem damaligen Chef und Café-Inhaber Werner Dickhut über das Verbrechen. „In der Bild-Zeitung war leider kein Foto drin“, war ein Satz, der dabei fiel und den Rösner und Degowski gehört haben müssen. Sie reagierten nicht. Sie warteten seelenruhig aufs Frühstück.

ls Anja Paul an den Tisch herantrat, bestellte Hans-Jürgen Rösner nach einem hastigen Blick in die Karte das „oberste Menü“. Der als Geisel genommene Bankangestellte äußerte, dass er keinen Hunger habe, woraufhin ihm Rösner mit der Speisekarte vor den Kopf schlug: „Du frisst auch was.“

Zweieinhalb Stunden im Cafe Dickhut

Das sei ihm damals schon komisch vorgekommen, sagt Werner Dickhut heute. Aber auch er ahnte nichts. Zweieinhalb Stunden hielt sich die Gruppe in seinem Café auf. „Ich will gar nicht wissen, was alles hätte passieren können“, sagt Werner Dickhut. Er forderte Rösner zwischendurch sogar auf, nicht alle Gegenstände vom Tisch auf die Fensterbank zu befördern, um Platz zu schaffen. „Der hätte doch auch durchdrehen können.“ Ja, das hätte er.

WP-Redakteurin berichtete über Zwischenstation der Geiselnehmer in Hagen 

Nach einem üppigen Trinkgeld verließen Gangster und Geiseln das Café. Unbehelligt. Unbemerkt. Was danach passiert, reiht sich nahtlos ein in die Chronik polizeilichen Versagens, das den Gangstern ihren unbeirrten Trip durch Deutschland überhaupt erst ermöglichte. Denn: Etwa zehn Minuten nachdem Rösner und Degowski verschwunden waren, stand die damalige Westfalenpost-Redakteurin Helga Reiher auf der Matte des Café Dickhut.

„Sie wollte wissen, wo die Gangster gesessen haben“, erinnert sich Anja Paul. Ihr Blick lässt die Erstauntheit von damals erahnen. Wieso wusste eine Zeitungsredakteurin vom Zwischenstopp der Geiselnehmer in Hagen? Und wieso hat die Hagener Polizei nicht reagiert?

Polizei informierte WP-Reporterin Helga Reiher

Das Kuriose ist: Die Reporterin erhielt den Tipp aus Kreisen der Hagener Polizei. Die gleiche Behörde gab sich später beim Anruf von Kellnerin Anja Paul allerdings völlig ungläubig und riet der jungen Frau, sich doch mal bei der Polizei in Gladbeck zu melden. Zögerten die Hagener Beamten aus Angst? Wieso wurde nichts unternommen? Wurde in Hagen aktiv weggesehen? Und was wäre passiert, wenn Reporterin Helga Reiher zehn Minuten früher aufgetaucht wäre? Fragen, die sich Anja Paul bis heute stellt.

Pauls Anruf scheint die Behörden zudem überhaupt erst informiert zu haben, dass Marion Löblich als fünfte Person Teil des Gangster-Gespanns war.

Hagen als Fluchtstation im Geiseldrama-Protokoll

Das offizielle Geiseldrama-Protokoll sieht Hagen als Fluchtstation später zwar vor, erzählt die Geschichte aber auf eine Weise, die sich Anja Paul bis heute nicht vorstellen kann. SEK-Beamte sollen auf den Dächern in der Bergstraße gelauert haben. Ein Observierer soll die Lage schräg gegenüber im Café Pabst genau protokolliert haben. Angeblich sollen zwei Zivilpolizisten während des Gangster-Frühstücks im Café Dickhut gesessen haben. „Nie im Leben“, sagt Anja Paul, „da war niemand.“

Leben der getöteten Geiseln hätte vielleicht in Hagen gerettet werden können 

Wenn all das stimmen soll, wieso kam es dann nicht zum Zugriff beim Frühstück? Wieso durften die Verbrecher, die später noch beim Autohaus Röttger in Vorhalle anhielten, ihre Fahrt fortsetzen? Die Leben der später auf der Geisel-Fahrt erschossenen Emanuele De Giorgi und Silke Bischoff hätten vielleicht schon in Hagen gerettet werden können.

Anja Paul hat die Geschichte schon gefühlte 1000 Mal erzählt. „Ich habe auch oft darüber nachgedacht, was ich getan hätte, wenn ich Rösner und Degowski erkannt hätte.“ Am Ende aber bleibt die sarkastische Feststellung, dass es vielleicht besser so war. Weil Anja Paul sich nur so damals völlig normal verhalten konnte. So, dass Degowski und Rösner nichts bemerkten.

25 Jahre später stellt Geiselnehmer Dieter Degowski ein erneutes Gnadengesuch. Er will raus aus der JVA Werl. Zurück in die Freiheit. „Er bittet um Gnade. Aber das hat die Schwester des jungen Emanuele di Giorgi damals sicher auch getan, als er ihren Bruder erschossen hat“, sagt Anja Paul.