Hagen. Weil sie mitten in der Nacht ein hilfloses Wimmern hörte und beherzt zum Telefon griff, rettete Birgit T. im August dieses Jahres dem 22-jährigen Opfer eines brutalen Überfalls das Leben.

Als Birgit T. in jener Nacht wach wird, ist die grausame Tat bereits eine halbe Stunde her. Der Straßenzug vor den Elbershallen wird von einem Geräusch erfüllt, das sie noch niemals zuvor in ihrem Leben gehört hat. Es ist das qualvolle Wimmern eines Todeskampfes. Birgit T. greift zum Hörer und gibt der Geschichte, die im August 2012 eine ganze Stadt erschüttert hat, so etwas wie ein glückliches Ende.

Gesprächsthema in Hagen

Auf der Straße, beim Bäcker, beim Frisör oder im Bus – in der ersten Woche des vergangenen Augusts war der grausame Überfall auf eine 22-Jährige an der Einmündung Frankfurter Straße/Elbershallen überall in Hagen Gesprächsthema.

Ein 30-Jähriger hatte sich in der Nacht zum 1. August 2012 im Umfeld der Johanniskirche an die Fersen seines jungen Opfers geheftet und es an besagter Einmündung schließlich brutal überfallen. Die Frau hatte zuvor eine private Feier besucht. Da sie kein Geld mehr, sondern lediglich noch ihr Handy in der Tasche hatte, trat sie den etwa fünf Kilometer weiten Heimweg zu Fuß an. Der Täter schlug und trat später mit höchster Brutalität auf die junge Frau ein. Selbst dann noch, als das Opfer bereits wehrlos am Boden lag.

Schwerste Schädelfrakturen

Neben schwersten Schädel-, Gesichts- und Kieferfrakturen erlitt sie auch eine Hirneinblutung. Neurochirurgen retteten ihr in der Tatnacht zunächst das Leben, in einer Bochumer Spezialklinik wurde später mit aufwendigen Operationen versucht, das Gesicht des Opfers wieder herzustellen.

Die Kriminalpolizei ermittelte im Umfeld der Elbershallen intensiv.
Die Kriminalpolizei ermittelte im Umfeld der Elbershallen intensiv. © WP Michael Kleinrensing

Die grausame Tat hat zwei Blickwinkel, die anschließend in der Stadt für Erleichterung und Hoffnung gesorgt haben. Der erste davon wurde von Überwachungskameras eingefangen, die den Täter bei seiner Jagd auf die junge Frau und bei seiner Flucht filmten und somit dafür gesorgt haben, ihn dingfest zu machen. Noch viel wichtiger ist aber der Blickwinkel, in dem Birgit T. sich in jener Nacht befand. Aufgeweckt vom Wimmern und Flehen der schwer misshandelten jungen Frau.

„Endlos viele Schutzengel“

„Es müssen endlos viele Schutzengel gewesen sein, die mich in dieser Nacht aufgeweckt haben“, sagt sie. Die Eltern des Opfers bestätigten ihr später: Hätte die junge Frau noch eine weitere Stunde dort gelegen, wäre sie gestorben.

Fügung, Schicksal, Glück. Egal wie man versucht zu erklären, warum Birgit T. – entgegen ihrer Gewohnheiten – in dieser Nacht um 3.30 Uhr wach wurde, man landet immer wieder bei der Feststellung, dass Zufälle wie dieser so selten sind wie ein Sechser im Lotto. „Der Tag zuvor war mein erster Urlaubstag. Ich hatte mich nachmittags hingelegt und war in der Nacht sozusagen schon ausgeschlafen“, sagt Birgit T.

„Das ist hier ganz normal“

Immer wieder schaute sie aus dem Fenster, vermutete zunächst ein Tier, später irgendeinen Verwirrten, einen Betrunkenen, eine Verlassene oder eine Betrogene. Das Hagener Nachtleben spuckt an dieser Stelle viele Halbstarke, Verliebte, Gehörnte und leider auch Pöbler aus, die einer durchzechten Nacht mit rücksichtslosem Gegröle oder einer Prügelei die Krone aufsetzen wollen. „Das ist hier ganz normal. Trotzdem hat die Ecke irgendwie ihren Charme“, sagt Birgit T, die schon oft gelaubt habe, sie sei in die Bronx gezogen.

Der Charme war wenige Minuten nach ihrem Anruf bei der Polizei aber verflogen. Blaulicht, okay, das sieht Birgit T. an dieser Stelle wirklich oft. Ein Notarztwagen, auch nicht so ungewöhnlich. Als Beamte aber plötzlich mit Taschenlampen das Gras entlang der Straße durchsuchen und Hunde ihnen dabei helfen, bekommt die Szenerie Tatort-Charakter.

Mutter des Opfers am Telefon

Birgit T. ist nicht das Treppenhaus heruntergelaufen. Was der jungen Frau zugestoßen ist, hat sie aus der Presse erfahren. Nachdem einige Wochen und lebensrettende Operationen vergangen waren, klingelte ihr Telefon. Die Mutter des Opfers war dran. „Sie wollten sich mit mir treffen.“

Fassungslosigkeit und Glück habe sie empfunden, als sie dem Opfer gegenüber saß. „Dass ein Mensch nach so einer Gewalt zurück ins Leben findet, ist ein Wunder“, sagt Birgit T. Der Tathergang sei wie gelöscht gewesen aus dem Gedächtnis des Opfers. „Ich finde es erstaunlich, dass sie in der Nacht noch weinen und wimmern konnte. Das hat ihr das Leben gerettet.“

Große Angst vor dem Täter

Birgit T. möchte ihren ganzen Namen nicht nennen. Zu groß ist die Angst vor dem Täter oder seinem Dunstkreis. Wer so etwas tut, vermutet sie, dem sei noch viel mehr zuzutrauen. Der Fall wird den Schutzengel und das Opfer in Kürze aber weiter beschäftigen. Ende Januar beginnt die Verhandlung vor dem Landgericht in Hagen. Birgit T. hat dazu Post bekommen. Sie soll als Zeugin aussagen.

„Ich werde einen Großteil der Verhandlung vor der Tür verbringen“, sagt sie. Wie sie reagiere, wenn sie den Täter erstmals sieht, könne sie nicht sagen. „Ich habe auch eigentlich nichts von der Tat gesehen.“

Dafür aber hat sie den vielleicht wichtigsten Telefonanruf ihres Lebens getätigt.