Hagen. Karsten Giehl stand mitten im Leben, er hatte eine große Familie und verdiente gutes Geld. Bis er vom Dach fiel und nicht mehr auf die Beine kam.
Jene Augenblicke, die sein Leben auf den Kopf stellten, werden Karsten Giehl (58) aus Hagen für den Rest seiner Tage begleiten. Sein Leben lang hatte er als Dachdecker gearbeitet, und auch an diesem Tag im Mai vor fünf Jahren war er hoch oben auf einem Haus beschäftigt, mit einem Hochdruckreiniger befreite er die Dachpfannen von Moos und Schmutz, er trug den vorgeschriebenen Sicherheitsgurt, als plötzlich die Feder der Gurtbremse riss und die Schwerkraft Giehl abwärts zog, er rutschte nach unten, sauste über die Regenrinne hinweg und stürzte neun Meter in die Tiefe.
Als er aufschlug, hielt er den Hochdruckreiniger noch immer fest in der Hand. „Der liebe Gott weiß warum“, sagt Giehl.
Eine Hand war gebrochen, ein Fuß, ein Ellbogen, mehrere Wirbel, mit einem Rettungshubschrauber wurde Giehl ins Krankenhaus geflogen. Ein halbes Jahr musste er das Bett hüten, er trug Fixatoren an Arm und Bein, er konnte zehn Monate lang nicht laufen, nicht einmal mit Unterstützung eines Rollators. Dreimal wurde er operiert, jeder dieser Eingriffe dauerte sieben bis acht Stunden. Giehl streckt die rechte Hand aus: „Sie ist nicht mehr gebrauchsfähig“, sagt er.
Die Ehe ist infolge des Unglücks kaputt gegangen
Er ist nie mehr der Alte geworden. Er sitzt in seiner Wohnung und stiert die Wände an. Seine Ehe ging in die Brüche, er hat vier Kinder, „zu einigen halte ich leidlich Kontakt.“ Zu den körperlichen Einschränkungen ist die Depression hinzugekommen. „Ich traue mich auf kein Dach mehr“, sagt Giehl. „Schon wenn ich daran denke, beschleicht mich ein ungutes Gefühl.“
Die Rentenversicherung habe ihm eine Umschulung zum Zimmermann nahegelegt, er versteht die Welt nicht mehr, man habe ihm vorgeworfen, störrisch jeden Job abzulehnen statt sich wieder ins Arbeitsleben einzugliedern. Sein linkes Bein sei tot, sagt Giehl, es hat infolge des Unglücks sechs Zentimeter an Umfang verloren; bei der OP, bei der die Wirbel versteift wurden, wurden die Nerven irreparabel geschädigt: „Das Bein ist steif, ich könnte mit einer Nadel reinstechen, ich spürte es nicht.“
Probleme mit dem Arbeitslosengeld
Er hat doch sein Leben lang hart gearbeitet, er war auf Montage in Dubai, Brasilien und Amerika, immer oben auf den Dächern, nie hat er sich vor einer Aufgabe gedrückt, nie sich gefürchtet, und jetzt muss er Stimmungsaufheller nehmen und Morphin, sonst wären die Schmerzen und die Depressionen nicht auszuhalten. Die nächste Rücken-OP steht bevor.
18 Monate lang war er krankgeschrieben, dann lief das Krankengeld aus, er wurde ausgesteuert. Weil die Ämter und die Versicherung drängten, habe er angefangen im Stahlbau zu arbeiten und Trapezbleche zu fertigen, berichtet er, dabei lockerte sich eine Schraube im Rücken und er musste wieder operiert werden. Seit Dezember ist er arbeitslos gemeldet, er dachte, wenn man 35 Jahre lang hart gearbeitet hat, wäre das mit dem Arbeitslosengeld kein Problem.
Das weiß er inzwischen besser.
Giehl liegt im Clinch mit der Arbeitsagentur, er würde es vielleicht einen Krieg nennen, als Malocher ist er diesen ganzen Papierkram, um den er sich jetzt kümmern muss, nicht gewohnt. Dreimal habe er die angeforderten Bescheinigungen und Atteste bei der Agentur eingereicht, sagt er, sogar per Einschreiben mit Rückschein. Nach Wochen seien ihm endlich 626 Euro für den Dezember bewilligt worden und später noch einmal 1163 Euro für den Januar. Seine Papiere seien nicht vollständig, heiße es seitens der Arbeitsagentur: „Immer wieder muss ich dieselben Dokumente einreichen. Warum werde ich nicht ins System eingespeist und bekomme, was mir zusteht? Ich brauche das Geld, ich bin am Ende.“
Die Arbeitsagentur erklärt den Vorgang
Die Arbeitsagentur bringt auf Anfrage unserer Zeitung Licht ins Dunkel, doch die Erklärung ist geradezu verwirrend und lässt nachempfinden, warum Giehl der Verzweiflung nahe ist. „Die Leistungen an Herrn Giehl wurden am 19. Dezember zunächst vorläufig für den Zeitraum ab 15. Dezember bewilligt“, heißt es seitens des Arbeitsamtes. Doch das ärztliche Gutachten, das für den finalen Bewilligungsbescheid maßgeblich sei, habe am 9. Januar wegen Mängeln abgeschlossen werden müssen, da die Schweigepflichtentbindungen durch Herrn Giehl nicht korrekt ausgefüllt worden seien: „Herr Giehl gab nur einen Arzt an, dieser Arzt antwortete jedoch nicht. Daraufhin wurde Herr Giehl noch am selben Tag aufgefordert, medizinische Unterlagen einzureichen, um das ärztliche Gutachten erneut einzuleiten.“
Doch auch dieses zweite ärztliche Gutachten habe am 7. Februar mit Mängeln abgeschlossen werden müssen, da die Schweigepflichtentbindungen erneut nicht verwertbar gewesen seien. Daraufhin sei Herr Giehl am 8. Februar abermals aufgefordert worden, den „Gesundheitsfragebogen mit Schweigepflichtentbindungen“ vollständig einzureichen. Außerdem seien die Zahlungen erstmals vorläufig eingestellt worden (die Zahlungen für Dezember und Januar seien pünktlich an den Kunden ausgezahlt worden, betont das Amt). Am 4. März habe Herr Giehl nun die ausstehenden Unterlagen eingereicht, woraufhin die vorläufige Zahlungseinstellung vom 8. Februar noch am selben Tag gelöscht und die Zahlung für Februar angewiesen worden sei. Es ist der Arbeitsagentur wichtig zu erwähnen, dass „Herr Giehl in den schriftlichen Aufforderungen zur Mitwirkung stets darauf hingewiesen wurde, weshalb die Arbeitsagentur erneut die Unterlagen anfordert“.
Ohne seine Schwester stände er auf der Straße
Die Behörde hat den Schriftwechsel penibel dokumentiert. Karsten Giehl hofft. Denn wenn er jetzt endlich regelmäßig sein Geld bekäme, wäre er zumindest diese Sorge los. Er hat Schulden. Als Dachdecker hat er gut 3000 Euro netto verdient und eine sechsköpfige Familie ernährt.
Doch die Auseinandersetzungen mit den Behörden und Versicherungen haben ihn in Existenznot gebracht. Eine Zeit lang konnte er weder seine Miete noch seine Medikamente noch seine Lebensmittel bezahlen. Seine Schwester und sein Schwager haben ihn über Wasser gehalten. „Ich koche auch für Karsten“, sagt Cornelia Wissemann (70), die zwölf Jahre ältere Schwester, die sich schon als Kind um ihn gekümmert hat: „Unsere Mutter ist früh gestorben.“
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Einer der Söhne von Karsten Giehl will jetzt den Führerschein machen. Das ist teuer, aber sein Vater wird ihn nicht unterstützen können. Es ist erniedrigend für einen Mann, der 35 Jahre lang keine Arbeit gescheut hat. Er hat immer Sport getrieben, aber das geht nun nicht mehr. Eine gerissene Gurtbremse, ein Materialfehler vielleicht, etwas nicht Beherrschbares hat Karsten Giehls Leben zerstört. Er ist mürrisch geworden, er habe zu nichts mehr Bock, sagt er, eingeschränkt wie er sei, gesundheitlich, körperlich, finanziell.
Er denkt an den Knall, als der Gurt riss und er abwärts sauste, er hätte sich vielleicht irgendwo festhalten können, an einem Seil, einem Werkzeug, an der Dachrinne. Stattdessen hielt er noch immer den Hochdruckreiniger umklammert, als er aus der Ohnmacht erwachte.