Hagen. Die Matthäus-Passion stellt ein Mammutprogramm für Amateure und Profis dar. Ein Wagnis, das die Musiker in Hagen gemeinsam stemmen wollen.

Langsam wird es voll auf dem Parkplatz im Schatten der Bundesagentur für Arbeit. Aus dem ganzen Ruhrgebiet kommen sie, zu zweit, zu dritt steigen sie aus den Autos, die sich hinter der Marienkirche drängeln: DO, MK, UN, EN und jetzt noch BO.

Christopher Brauckmann verschließt seinen dunkelroten BMW, gerade noch geschafft, um halb acht geht es los. 38 Kilometer über die Ruhrautobahnen können manchmal nervenaufreibend sein. Zwei junge Leute hat er nach Hagen mitgebracht, sie sind nicht jeden Mittwoch in Hagen, aber zurzeit schon, denn der Leiter des Bach-Chores zählt jetzt auf die jungen Stimmen aus seinem Bochumer Kammerchor.

Von oben dringen Klavierklänge, es klingt nach Barock. Zwei Sänger probieren eine eigene Bearbeitung für zwei Klaviere eines Orgelwerkes von Georg Friedrich Händel aus. Helles Licht brennt im Haus der Begegnung, orangefarbene Stühle stehen im Halbrund, dazwischen schwarze Notenständer, alles schaut zum Kawai-Flügel in der Mitte, dessen Tastatur wie jeden Mittwoch auf den Kirchenmusiker wartet.

Geprobt wird einen Halbton tiefer - wie einst zu Zeiten von Johann Sebastian Bach.
Geprobt wird einen Halbton tiefer - wie einst zu Zeiten von Johann Sebastian Bach. © WP | Michael Kleinrensing

Lachen, flüstern, Stühle rücken. Der Flügel muss in die Ecke, seinen Platz nimmt ein unscheinbares Gerät ein: Behelfsweise wird das elektronische Cembalo die Proben begleiten. Einen Halbton tiefer wird geübt, wie zu Bachs Zeiten. Historisch informierte Aufführungspraxis nennt man das.

Meilenstein der Musikgeschichte

Die Reihen füllen sich, viele Sängerinnen und Sänger haben ihren festen Platz, manche singen schon seit bald einem Vierteljahrhundert im Bach-Chor. Seit November haben sich die Sitzreihen verdoppelt, schließlich wird derzeit ein Werk einstudiert, das zwei Chöre verlangt.

Wer das so festschrieb, ist kein Geringerer als Johann Sebastian Bach. Einen Meilenstein der Musikgeschichte nennt Brauckmann das Werk, dessen Erarbeitung sich die rund 80 Sängerinnen und Sänger der beiden Chöre seit Monaten widmen: Die Matthäus-Passion des Leipziger Kantors soll am Palmsonntag in der Johanniskirche in Hagen aufgeführt werden. Und am Vorabend in der Propsteikirche in Bochum. Ein Mammutprogramm für Amateure und Profis.

Ein elektronisches Cembalo begleitet die Probenarbeit.
Ein elektronisches Cembalo begleitet die Probenarbeit. © WP | Michael Kleinrensing

Christopher Brauckmann weiß, was er sich mit der Aufführung des universellen, zeitlosen „Seelenpflasters“, wie der Dirigent Raphaël Pichon die Matthäus-Passion nannte, vorgenommen hat. Und er weiß, was seine Sängerinnen und Sänger noch brauchen, um den Charakter dieses Dramas um Menschlichkeit vollends zu durchdringen: klare Ansagen, reichlich Disziplin, viele Stunden Proben.

Breitbeinig sollen sie sich aufstellen, die Frauen und Männer, die Arme nach oben - einatmen, Vorwärtsbeuge - ausatmen. So geht das ein paar Mal in alle Richtungen. Einsingen heißt das, was jetzt kommt. Oder Fitnesstraining für die Stimme. Unterlippe an die Vorderzähne: „Mit dem Atem die Kerze zum Flackern bringen“, macht der junge Hochschulprofessor die Übung vor. „F-f, f-f“, zielen die Sänger den Luftstrom auf ihren erhobenen Zeigefinger an der ausgestreckten Hand. „Und jetzt ausblasen – f-ff!“

Die Kerze ist ausgeblasen, die Stimmung gut, bevor noch der erste Ton erklingt, den sich Christopher – hier duzt man sich - aus dem braunen Kasten holt. Dann: wo-wo-wo, wa-wa-wa, so-ja, so-ja. „Von hier“, stimmt der Dirigent den nächsten Halbton an. „Bauch anspannen, Nabel geht Richtung Wirbelsäule.“ Don-don-don, Höhenflug und vibrierende Tiefe. Die Lippen locker aufeinander, laut seufzen, entspannen, setzen.

Hoher Anspruch des Komponisten

„Wir beginnen heute mit dem Schlusschor.“ Buch auf, Seite 293: Knappe zehn Seiten sind jetzt zu üben, die das Ende der vor drei Jahrhunderten entstandenen Leidensgeschichte beschreiben. Als eindrückliches Finale des monumentalen Klanggemäldes muss das Schlaflied gelingen.

Unendliche Trauer und großes Weinen sollen nach dem Willen des Komponisten nun hörbar werden: „Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu“, singt der Chor in vier Stimmen und folgt den wiegenden Bewegungen seines Leiters bis zum Schlusston. „Der wird lang“, sagt Brauckmann und spielt den letzten Akkord, mit dem das Orchester den Trauerchor in der Todesstunde beendet.

Disziplin und Ausdauer sind gefordert, bis die Matthäus-Passion am vorletzten März-Wochenende perfekt erklingt.
Disziplin und Ausdauer sind gefordert, bis die Matthäus-Passion am vorletzten März-Wochenende perfekt erklingt. © WP | Michael Kleinrensing

Eine Dreiviertelstunde ist um – ein paar Seiten nur in dem dicken blauen Klavierauszug. Es bleibt noch viel zu tun, bis der Bach-Chor Hagen das großangelegte Werk aufführungsreif beherrscht. Zwei Teile umfasst die vertonte Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi nach dem Evangelisten Matthäus, die Bach in einzigartiger Dramatik zu einem Gesamtkunstwerk gestaltet hat.

Zwei Chöre braucht es dazu, zwei Orchester und das sogenannte Basso continuo, vier Solisten und einen großen Konzertraum. Dort werden sie – alle -, wie von Bach vorgesehen, in Dialog treten, sich überlagern, sich trennen, sich verweben. So sollen die inneren Bilder im Zuhörer entstehen. Ein zeitloses Panorama von Verrat und Unrecht, Opfer und Reue, Liebe und Erbarmen - eindringlich, unmittelbar, authentisch.

Das Einüben der Bach‘schen Passion ist für jeden Chor eine besondere Herausforderung.
Das Einüben der Bach‘schen Passion ist für jeden Chor eine besondere Herausforderung. © WP | Michael Kleinrensing

Wie zahllose Chöre vor ihm hat sich der Bach-Chor an die Einstudierung der Bach’schen Passion gewagt. Ein Wagnis, das die Musiker gemeinsam stemmen wollen: Üben, üben, üben – und werben. Mit Plakaten unterm Arm werden die Sängerinnen und Sänger in den regnerischen Hagener Abend entlassen. Und mit dem Auftrag, in Hagen, in Bochum und in der Region Menschen einzuladen, dieses einmalige Werk live zu erleben.

Am Samstag, 23. März, um 18 Uhr in der Propsteikirche in Bochum und am Sonntag, 24. März, um 17 Uhr in der Johanniskirche in Hagen besteht dazu die Möglichkeit. Kartenvorverkauf bei Thalia Hagen und an der Abendkasse.