Hagen. Ilse Mitze aus Hagen war erst 19 Jahre alt, als sie unter dem Fallbeil starb. Der Grund: Sie hatte Schlüpfer und Strümpfe gestohlen.

Im Beisein von vielen Schülern wurde am Donnerstag in der Augustastraße in Hagen zum zweiten Mal ein Stolperstein für die von den Nazis umgebrachte Ilse Mitze verlegt. Der Stolperstein war erstmals im Juni 2021 verlegt, wenige Wochen später jedoch von einer Firma beim Verlegen von Glasfaserkabeln versehentlich zerstört worden. „Es hat ewig lange gedauert, bis die Kosten erstattet wurden und der Stein bestellt, wiederhergestellt und geliefert wurde“, berichtet Pablo Arias, Lehrer am Rahel-Varnhagen-Kolleg und einer der Initiatoren der Aktion.

Die Teilnehmer der Verlegung des Steins gedachten den Opfern der Nazi-Zeit.
Die Teilnehmer der Verlegung des Steins gedachten den Opfern der Nazi-Zeit. © WP | Michael Kleinrensing

Nun liegt ein neuer Stein, verlegt von Mitarbeitern des Wirtschaftsbetriebs Hagen (WBH), vor dem Haus Nr. 11. Schüler des Gymnasiums Hohenlimburg legten außerdem einen Kranz mit weißen Rosen vor dem Gebäude ab.

Ilse Mitze war erst 19 Jahre alt, als sie unter dem Fallbeil starb. Sie war ein Waisenkind, hat Fazdi Lin, Schüler des Projektkurses Geschichte am Rahel-Varnhagen-Kolleg, der die Verlegung des Stolpersteines für Ilse Mitze mitorganisiert hat, herausgefunden. Sie ist ein Beispiel für die obsessive Beflissenheit, mit der die Nationalsozialisten in den letzten Kriegsjahren den Kreis ihrer Opfer erweiterten.

Aber was für ein schreckliches Verbrechen hatte Ilse Mitze verübt, das mit der Todesstrafe geahndet werden musste? Sie hatte acht Damenhemden, fünf Schlüpfer und 13 Paar Strümpfe gestohlen. Sie starb als „Volksschädling“.

Verheerender Bombenangriff auf Hagen

1943 war der Krieg in vollem Gange, änderte aber seinen Kurs. Die Deutschen hatten sich Anfang des Jahres in Stalingrad ergeben, und die Alliierten landeten auf Sizilien. Viele deutsche Städte lagen schon in Schutt und Asche, als am 1. Oktober um 21.30 der erste große Bombenangriff auf Hagen begann. 263 Menschen starben im Bombenhagel. Auch das Haus in der Augustastraße 11, in dem Ilse Mitze als Dienstmädchen tätig war, brannte lichterloh.

Während die anderen Bewohner in einen der Bunker in der Innenstadt flüchteten, blieb Ilse Mitze im Haus und rettete, was zu retten war. Zwei Stunden lang barg sie zahlreiche Dinge aus den brennenden Wohnungen und brachte sie in den Keller.

Die junge Frau, geboren am 14. Februar 1925, hatte ihre Mutter bei der Geburt verloren. Der Vater, ein Malermeister, starb, als sie 16 war. Ilse Mitze brach nach der Schule einen Nähkursus ab und verdingte sich als Hausmädchen in der Augustastraße. Die Familie, bei der sie arbeitete, sagte später aus, sie sei fleißig und ordentlich gewesen, habe sich jedoch an den Süßigkeiten der Kinder vergriffen und mehrmals einen jungen Mann bei sich übernachten lassen – was nach den damaligen Zeitbegriffen als ungehörig und unmoralisch galt.

Der Stolperstein für Ilse Mitze in Hagen.
Der Stolperstein für Ilse Mitze in Hagen. © WP | Michael Kleinrensing

Wenige Wochen nach der Bombennacht fand man in einem Koffer von Ilse Mitze die erwähnten Kleidungsstücke, die sie offenbar in verwüsteten Häusern an sich genommen hatte. Von einem Sondergericht, dessen Vorsitz der Richter Ernst Eckardt führte, der für seine Gnadenlosigkeit bekannt war, wurde sie, obwohl als 18-Jährige damals noch minderjährig, zum Tode verurteilt. „Ilse Mitze hatte kein faires Verfahren, das Todesurteil stand von vorneherein fest“, bilanziert Fazdi Lin.

NS-Richter stuften die Angeklagten in Verbrecherkategorien ein. Diese Einordnung und nicht die objektive Tat bestimmte die Strafe. Bei Ilse Mitze konstruierte Richter Eckardt den Recherchen von Fazdi Lin zufolge das Bild eines geborenen Verbrechers bzw. eines „Volksschädlings”. Er nutzte dafür Angaben des Arbeitgebers. So sollte Ilse in der letzten Zeit nachts Besuch ihres Freundes bekommen haben, sie sei auch „naschhaft und unehrlich” und habe sich gelegentlich an den Süßigkeiten der Kinder vergriffen.

Mehr als 1000 Hagener zwangssterilisiert

Das Gericht versuchte, das Bild des „Volksschädlings” zu untermauern und bestellte beim Gesundheitsamt der Stadt Hagen ein Gutachten über die junge Frau. Sein Leiter, Dr. Scheulen, bezeichnete Ilse als „eine dumme, freche und lügenhafte Psychopathin”.

Es war derselbe Arzt, der mit pseudowissenschaftlichen Argumenten dafür sorgte, dass mehr als 1000 Hagener zwangssterilisiert, zur Abtreibung gezwungen oder in Euthanasieanstalten ermordet wurden.

Am 17. Mai 1944, inzwischen 19 geworden, wurde Ilse Mitze in Dortmund hingerichtet. Wie weitere 300 NS-Opfer starb sie unter der Guillotine im „Lübecker Hof“ der heutigen Justizvollzugsanstalt Dortmund.

Der Stolperstein vor jenem Haus, in dem Ilse Mitze arbeitete, erinnert an ihre Ermordung. Pablo Arias kündigte an, dass im kommenden Mai der erste Stolperstein für einen Homosexuellen in Hagen verlegt werden soll.