Hagen. .
Das Urteil fiel am 4. November 1938. 22 Tage später war die Hausgehilfin Edith M. tot. „Morgens gegen 5.30 Uhr plötzlicher Exitus“, steht in ihrer Krankenakte.
Das Urteil mit dem Vermerk „Streng vertraulich“ hatte das Erbgesundheitsgericht am Landgericht Hagen gesprochen. „Die Unfruchtbarmachung der Edith M. wird angeordnet, da sie nach dem Ergebnis der angestellten Ermittlungen an angeborenem Schwachsinn leidet“, steht dort geschrieben. Und weiter: „Hinzu kommt ihre Triebhaftigkeit. Sie gibt sich Männern rückhaltlos ohne die geringsten Bedenken hin. Den Erzeuger ihrer derzeitigen Leibesfrucht kennt sie überhaupt nicht.“
Ein Urteil, das so oder so ähnlich über 778 Menschen in Hagen gefällt wurde. Für die Einschätzung des Gerichts spielten neben ärztlichen Stellungnahmen auch Intelligenztests eine Rolle, in denen die Patienten beispielsweise die Frage beantworten mussten, wo die Sonne aufgeht oder was 4 mal 32 ergibt.
Kaum erforschte Akten
Dokumentiert sind Verhandlungen und Urteile in Akten, die heute im Archiv der Stadt im Historischen Centrum lagern. Ein seltener Bestand, der bislang kaum erforscht ist. Kristin Lange, die in Essen Anglistik und Geschichte studiert, nimmt sich der Akten im Rahmen ihrer Bachelorarbeit an. „Opfer zweiter Klasse - die Wiedergutmachung der NS-Zwangssterilisierten“, ist die Arbeit der jungen Hagenerin überschrieben, die am Ricarda-Huch-Gymnasium Abitur machte. „Durch das Bundesentschädigungsgesetz aus dem Jahr 1956 wurden die Betroffenen nicht erfasst“, so Kristin Lange, „Geld wurde erstmals 1988 ausgezahlt – als Härteleistung aus dem allgemeinen Kriegsfolgengesetz. Als Verfolgte des Nazi-Regimes wurden die Opfer nicht anerkannt.“
In der Arbeit geht es auch um die wissenschaftlich umstrittene Frage, ob rassische Gründe bei den Urteilen eine Rolle spielten. „Am Ende mag das eine Definitionsfrage des Begriffs Rasse sein“, sagt Kristin Lange. So waren unter denjenigen, die verurteilt wurden, nur sechs Juden und Zigeuner. „Es ging nicht um die Frage, ob jemand arisch war oder nicht“, sagt Stadtarchivar Andreas Korthals, „in den Mittelpunkt rückte das Gericht den Gesundheitszustand. Dahinter stand wohl die Idee, ein ,Herrenvolk’ zu züchten.“ Dabei gäbe es auch eine soziale Komponente. „Unter denjenigen, die vor dem Erbgesundheitsgericht angeklagt waren, waren nur drei Akademiker“, sagt Korthals, „nicht einer wurde sterilisiert.“
Durch Anzeigen wurden die Gerichte in der Regel auf Menschen aufmerksam. „Gestellt wurden die oft von behandelnden Ärzten, aber in Einzelfällen auch durch Nachbarn oder sogar Verwandte“, sagt Kristin Lange, „wer schließlich verurteilt wurde, musste sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an der Klinik einfinden – in den allermeisten Fällen am Allgemeinen Krankenhaus. Wer nicht kam, wurde von der Polizei abgeholt.“
1482 „Sterilisationssachen“ sind zwischen 1933 und 1945 dokumentiert. „Die meisten“, so Korthals, „bis 1939. Mit Kriegsbeginn lassen Verfahren und Verurteilungen merklich nach.“
Tragischer Ausgang
Frauen und Männer waren gleichermaßen von Zwangssterilisationen betroffen. Der Fall von Edith M. ist da nur einer von vielen. Einer allerdings mit besonders tragischem Ausgang. Denn die damals 24-jährige war im sechsten Monat schwanger, als sie durch das Gericht dazu verurteilt wurde, den Eingriff im AKH durchführen zu lassen: „Auf ausdrückliches Befragen erklärt sich die Patientin sowie deren Mutter mit einer Unterbrechung der Schwangerschaft einverstanden“, heißt es in dem Krankenbericht.
Am 22. November 1938 erfolgte der Eingriff. In den folgenden Tagen, so geht es aus der Krankenakte hervor, verschlechterte sich der Zustand der Patientin zusehends. Immer wieder erbricht sie „schwarze Massen“. Bereits am 25. November sackt der Puls ab. In der Nacht, so heißt es, „schläft die Patientin ruhig“.
Morgens gegen 5.30 Uhr ist Edith M. tot.