Haspe. Traditionell lädt die Ev. Kirchengemeinde Haspe in den Osterwochen ein, sich auf den Weg zu machen: Diesmal geht es über die Hasper Friedhof.
Friedhöfe sind ein Teil des Lebens. Gottesäcker sind deutlich mehr als reine Bewahrungsorte für Verstorbene, an denen würdevoll ein Platz gegen das Vergessen für die Hinterbliebenen geschaffen wird. Als sichtbarer, sich stets fortschreibender Ausdruck der Erinnerungskultur haben sich Friedhöfe längst zu Geschichtslexika unserer Städte entwickelt. Ihre identitätsstiftende Kraft spiegelt sowohl das Wirken unserer Vorfahren sowie die Geschichte und Strukturen unserer gegenwärtigen Gesellschaft wider.
Vor diesem Hintergrund hat die Kirchengemeinde Hagen-Haspe den evangelischen Teil des Friedhofes am Büdding zum Ziel des diesjährigen Passionsweges ausgeguckt. An diesem Sonntag, 2. April, wird der als „Weg der Erinnerung“ inszenierte Acht-Stationen-Pfad um 14 Uhr mit einer Andacht am oberen Eingang (Parkplatz und Bushaltestelle) eröffnet. Im Anschluss startet nach einem Kaffee- und Kuchen-Angebot ein gemeinsamer Rundgang über die gut ausgeschilderte, barrierefreie Route.
Aus der Corona-Not geboren
Es begann auf der „Via Dolorosa“
Klassische Kreuzwege sind als eine Möglichkeit gedacht, sich in die letzten Stunden Jesu bis zu seinem Tod am Kreuz gleichsam hineinzubegeben und dabei dem Leidensweg Jesu auf besondere Weise nahe zu kommen.
Bereits im 12. Jahrhundert begannen Gläubige damit, diesen Weg in Jerusalem entlangzugehen und sich dabei an das Leiden und Sterben Jesu zu erinnern. So entwickelte sich die „Via Dolorosa“ zu einem Stationenweg von Wallfahrtskirchen.
Angefangen hat es mit zwei Stationen, nämlich dem Haus des Pilatus als Ort der Verurteilung und der Grabeskirche als Ort der Kreuzigung und Grablegung. Nach und nach kamen dann immer mehr Stationen dazu, an denen einzelnen Begebenheiten auf Jesu Weg zum Kreuz bestimmten Orten zugewiesen wurde (Geißelung, Verurteilung etc.). Einige von diesen Stationen sind biblisch hinterlegt, andere entstammen Legendenbildungen.
Pilger, die aus Jerusalem wieder in ihre Heimat kamen, haben später Kreuzwege nach diesem Jerusalemer Vorbild an ihren Heimatorten angelegt. So konnten dann Menschen, die nicht bis nach Jerusalem reisen konnten, die Kreuzwege in ihrer Heimat abschreiten und sich so in das Geschehen um die Passion Jesu hineinversenken.
Zuerst hatte ein traditioneller Kreuzweg 7 Stationen. Seit 1600 aber kreierten die Franziskaner-Mönche den Kreuzweg mit 14 Stationen. Seit 1975 betet der Papst einen solchen Kreuzweg an Karfreitag beim Kolosseum in Rom.
Bereits zum dritten Mal versuchen Vertreter des Presbyteriums, Ehrenamtliche aber auch das Hasper Pfarrteam in Anlehnung an die Kreuzweg-Idee nicht bloß die Mitglieder der christlichen Kirchen, sondern alle Menschen auf diese Weise anzuregen, ihr eigenes Sein zu überdenken sowie ihre Lebensziele und gesellschaftliche Rolle zu justieren. In diesem Sinne wird der diesjährige „Weg der Erinnerung“ zu einem Moment des Innehaltens und der Selbstreflexion in einer Welt, die mit immer höheren Drehzahlen unsere Routinen und Lebensentwürfe durcheinanderwirbelt. Denn die Wege des Lebens sind selten unbeschwert und gerade. Vielmehr tauchen oft unvermittelt immer wieder Kreuzungen auf, die von jedem Individuum verlangen, sich neu zu entscheiden und sich auf Richtungsänderungen einzulassen.
Während der Corona-Hochzeit, als sämtliche Kirchen in Deutschland angesichts der grassierenden Pandemie zu Risikoorten deklariert wurden, entstand im Jahr 2021 erstmals die Idee, alternativ in der Osterzeit einen traditionellen Open-Air-Passionsweg quer durch Haspe anzulegen, um auf diesem Pfad die biblischen Botschaften – ohne jegliches Infektionsrisiko – zu den Menschen zu bringen. Ein Angebot, das trotz der ambitionierten Streckenführung auf so erstaunlich positive Resonanz nicht bloß bei den Hasper Gemeindemitgliedern stieß, dass das Team prompt beschloss, im vergangenen Jahr entlang des Philosophenwegs am Tücking eine kaum minder beachtete Wiederholung anzubieten.
Weg zu den Antworten
Nun also der dritte Teil einer noch jungen Tradition, die irgendwie aus der Zeit gefallen scheint, aber dennoch einen so wichtigen Ankerpunkt im Jetzt anbietet: Denn zu leben bedeutet nicht nur Freude und Wohlbefinden, sondern Leben bedeutet auch Antworten zu finden auf das Bittere und Schmerzhafte, das stets Teil der Realität ist. Sei es die Sorge um die eigene Gesundheit oder die der Lieben, sei es aus wirtschaftlicher Not aufgrund rasant steigender Kosten oder auch aus existenzieller Angst, weil der Schrecken des Krieges nach Europa zurückgekehrt ist.
Entsprechend hat Presbyteriumsmitglied Hans-Peter Schlien in Anlehnung an die Passionsgeschichte Christi sich mit der Premieren-Station dem menschlichen Werdegang gewidmet, der zunächst vom Blick auf die Zukunft, später zunehmend auf Erinnerungen und letztlich angesichts des Glaubens an ein Leben nach dem Tod über das irdische Dasein hinaus geprägt ist. „Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“ So beginnt ein Lied von Arno Pötzsch. Er hat es 1941 mitten im Zweiten Weltkrieg gedichtet. Damals war er als Pfarrer und Seelsorger in Holland stationiert und hat dort viele zum Tode verurteilte Soldaten auf ihrem letzten Weg begleitet. „Diese Botschaft möchte ich den Besuchern schon auf den ,Weg der Erinnerungen‘ mitgeben“, betont Schlien.
Raum für Individuelles
Aber die bequeme Wegeführung entlang der Grabfelder bietet auch reichlich Raum für die ganz eigene Gedankenwelt. So können persönliche Herzenserinnerungen mit Hilfe bereitgestellter Schreibutensilien auf kleinen Kacheln verewigt und auf einem herzförmigen Beet hinterlegt werden.
An die Sternenkinder, die allzu oft als von ihren Eltern vergessene Mädchen und Jungen auf einem separaten Grabfeld des Hasper Friedhofes ruhen, erinnert Presbyterin Karin Thoma-Zimmermann. 21 Ruheorte, deren Kinder es oft gar nicht erst lebendig aus dem Kreißsaal geschafft haben, wurden nicht bloß mit gelben, extra gegossenen Sternentritten wieder erreich- und sichtbar sowie mit Blumenanpflanzungen ansehnlich gemacht.
Auch das 277 Quadratmeter große Massengrabfeld der meist osteuropäischen Zwangsarbeiter aus den Jahren 1943 bis 1945 erhält als vierte Station des „Weges der Erinnerungen“ wieder jene Sichtbarkeit, die es verdient. Unter dem Leitwort „Gebt uns unsere Namen zurück“ werden in den Osterwochen dort 177 Holzkreuze mit Namensschildern aufgestellt – für die dort unwürdig verscharrten Opfer der Nazi-Schergen.
Lehrstunden der Geschichte
Eine Erinnerung an Krieg und Gewalt schafft ebenfalls Heinrich Baumann mit ganz individuellen Blicken auf die Weltkriegsopfer aus dem heimische Raum, die in Haspe ruhen: „Da ist der erst 16-jährige Friedrich Wiehe, der als Soldat am 2. April 1945 starb“, weiß der Hasper Ex-Pfarrer schicksalhaftes zu berichten und blickt zugleich auf die sechsköpfige Familie Oberbeck, die zu den 60 am Büdding beigesetzten Bombenopfern zählt. „All das wiederholt sich zurzeit in der Ukraine“, bietet die fünfte Station zugleich eine Bastelanleitung für Kinder, die angesichts der Kriegsschrecken eine Friedenstaube gestalten möchten.
Farbintensiv fällt die Darstellung eines Paradieses für Tiere aus, dessen unvermeidliche Regenbogenbrücken-Symbolik von der Tischlerei Woesner imposant aus Holz umgesetzt wurde. „Auf kleinen Holzscheiben können die Leute die Namen ihrer Lieblinge hinterlassen und diese an einem Busch drapieren“, möchte Karin Thoma-Zimmermann auf diesem Wege ein Stück Erinnerungskultur auf einem Friedhof schaffen, auf dem (bislang) Tiere keine Ewigkeitsbleibe finden.
Deutlich menschlicher dürften die Tauferinnerungen ausfallen, mit denen Pfarrerin Sandra Thönniges an die lebenslange Begleitung durch Gott erinnern möchte. Im Mittelpunkt steht dabei eine gestaltete Weltkugel, auf der Passanten mit Filzstift ihre Namen hinterlassen können: „Denn die Taufe ist eine globale Verbindung aller Christen“, erinnert sie. Ein Gedanke, der auch am Zielpunkt des „Weges der Erinnerungen“ eine Rolle spielt: An der „Zeitenwiese“ bewegt sich der Mensch reflektierend entlang eines roten Fadens durch Vergangenheit, Gegenwart und zugleich mit Blick auf die Zukunft. Diese mündet letztlich in die Ewigkeit, wo jeder Mensch zu einer Perle in Gottes Hand wird – eine Perle, die jeder Besucher zum Abschluss auffädeln kann.
Multimediale Elemente
Obendrein bieten die einzelnen Stationen allesamt die Chance, über einen QR-Code sich per Smartphone weitere atmosphärische Bild- und Tonsequenzen zu den Stationen aus dem Internet herunterzuladen und somit diesen Friedhofsrundgang zu einer multimedialen Inspiration werden zu lassen. „Unsere Konfirmanden sind den ,Weg der Erinnerungen‘ schon abgeschritten“, erzählt Pfarrerin Thönniges. „Sie entdeckten dabei nicht bloß viel Unbekanntes, sondern erlebten auch eine sehr lokale zum Nachdenken anregende Geschichtsstunde.“
Dass das Leben kein Spaziergang ist, diese Erfahrung hat auch Jesus Christus in seinem Leben gemacht und ist unserem Leben in Freude und Leid vorausgegangen. Ein klassischer Kreuzweg erinnert daran, wie die letzten Stunden im Leben Jesu sich zugetragen haben. Diesen Weg einmal mitzugehen, mit dem eigenen Leben zu verknüpfen und Kreuzungen im eigenen Leben bewusst wahrzunehmen, kann ein Kraftfeld sein, das stark und mutig macht, sich damit auseinander zu setzen, was jeder individuell gerade an Leid empfindet und dieses bewusst anzugehen, anstatt sich ihm auszuliefern. Genau diese Erweiterung der Perspektive und somit des Horizonts möchte der Hasper „Weg der Erinnerungen“ anbieten.
Jetzt müssen sich die Menschen lediglich noch darauf einlassen. Zeit genug dürfte bis zur Abschlussandacht im Fackelschein am Freitag, 21. April, ab 18 Uhr wiederum am oberen Friedhofseingang reichlich bleiben.