Hagen. Die Sterbetafel NRW sagt für Bürger den Todeszeitpunkt voraus. Bei Reporter Mike Fiebig ist das Sommer 2063. Was man in Hagen noch erleben kann.
Noch 40,4 Jahre, dann bin ich tot.
In meiner Vorstellung erinnert dann nur noch ein knapp 50 Zentimeter breites Urnengrab auf dem Friedhof an mich. Keine Ahnung, wer Bestatter ist, an diesem Sommertag im Jahr 2063. Knapp 13 Jahre nachdem ich in den Ruhestand eingetreten sein werde. Kann man ja morbide finden, darüber zu sinnieren. Letztlich ist das nichts anderes als vorausahnende Statistik, die die aktuelle Sterbetafel des Landesamtes für Statistik anbietet. 40,4 Jahre noch. Meine Frau wird älter. Eine Betrachtung der Zeit – und was man lokalgeschichtlich eigentlich noch erleben kann.
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Ja klar, das Beste kommt noch. Jede Sprache hat ihre Übersetzung für diese Plattitüde. Ich habe die Hälfte rum. Könnte mich melancholisch machen. Macht es aber nicht. Eine Hälfte kommt schließlich noch. Das sagt die Sterbetafel, eine – Achtung, es wird formal – „Ausscheideordnung in Tabellenform“. Bist du heute fast 39, so wie ich, dann hast du noch 40,4 Jahre. Also als Mann. 57-jährige Männer verabschieden sich in 23 Jahren, 68-Jährige in 15 Jahren.
Die Welt liegt vor ihnen
Wenn die nächsten 40 Jahre so schnell vergehen wie die ersten, dann muss ich dranbleiben. Zuerst – und sie gelten noch vor der ganzen Welt – an meinen Kindern. Ich habe drei davon. Sie leben noch 72, noch 75 und noch 78 Jahre. Die Welt liegt vor ihnen. Das ganze Glück. Alle Chancen, der Spaß, die Freude, die Liebe. Aber auch die Trauer, die Enttäuschung, das zigmalige Wiederaufstehen. Ehrlich gesagt: Am meisten fürchte ich, mit Blick auf sie, die Zeit nach mir, in der ich nicht mehr helfen kann. In der vielleicht neue Viren, neue Diktatoren, neuer Hass aus neuen Löchern kriechen und erneut und immer wieder Dinge aus den Fugen geraten, die doch fest verfugt schienen.
Eins ist klar: Menschen sollen sie werden, die im Kopf keine Grenzen haben. Wichtiger als reich und angesehen, als von Karrieren getrieben, ohne Kompass, ohne Nähe. Trans, farbig, divers, Mann, Frau, chinesisch, geflüchtet, jung, alt, auf der schiefen Bahn, Minderheit, Obrigkeit – egal. Respekt und Einfühlungsvermögen sollen jede Tür viel weiter öffnen als heute.
Die Zeit zeigt uns, dass es dauert, bis gesellschaftliches Mindset sich verändert. Und auch nur in Teilen. Vor 80 Jahren wurden in Hagen Juden verfolgt. Das ist „nur“ ein Menschenleben her. Die systematische Verfolgung ist zum Glück vorüber und doch, so heißt es aus Kreisen der jüdischen Gemeinde, traue man sich weiter nicht, mit einer Kippa über die Straße zu laufen. Es gibt Menschen unter uns, in deren Leben diese beiden Enden stattfinden.
Die Suche nach dem Sinn
Wenn meine Kinder soweit sind, stellt sich nicht mehr starre Frage, ob Ausbildung oder Studium. Lehre oder Uni? So ist die Welt schon in 15 Jahren nicht mehr. Sie ist es doch schon heute nicht. Es ist nicht mehr wichtig, schnell zu arbeiten des Arbeitens wegen. Sinnstiftend zu sein, einer Berufung zu folgen, sich selbst nicht zu verlieren, darum geht es.
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Geld? Karriere? Mittel zum Zweck. In 40,4 Jahren wird es, so denke ich, keinen Arbeitshistorismus geben à la „wir puckeln jetzt wieder wie die Alten“. Mehr denn je wird die Frage nach dem „Warum“ beantwortet werden wollen. Industrie- und Handelskammern, Studienberatungen oder Berufsinformationszentren wird es dann nur noch geben, wenn sie der Agilität der Welt bis dahin Rechnung getragen haben. Der Zeitgeist dreht sich.
Gibt es noch ein Parteiensystem?
2063, mein Todesjahr, mag noch ein klitzekleiner Bruchteil von uns allen die Räder in der Stadt drehen wollen. Schon heute zieht die Politikverdrossenheit doch alles Mitmachen, alles Einbringen mit in den Abgrund. Wer lässt sich in 40 Jahren für den Stadtrat aufstellen? Wer sind diese Leute? Und können sie überhaupt noch aus dem schon heute tradiert erscheinenden Parteiensystem hochgezogen werden.
Die SPD – mitgliederstärkste Partei in Deutschland – hat allein seit 1990 satte 600.000 Mitglieder verloren. Knapp über 300.000 sind noch übrig. In 40 Jahren noch existent?
Manches, das so sinnvoll scheint oder ist, dauert seine Zeit. Die Boeler Ortsumgehung, ich wohne dort. 50, 60 (!) Jahre der Planung, mehrere des Baus. Mittlerweile ist sie seit 14 Jahren befahrbar. Über den Bau einer echten Arena für Leistungshand- und basketball diskutieren wir in Hagen auch schon 30 bis 40 Jahre. Den Bau einer solchen Arena – finanziert durch Investor Detlef Spruth – könnte ich tatsächlich erleben. Die Renaissance einer Straßenbahn auch? Knapp 50 Jahre ist die letzte Fahrt her. Bis wirklich wieder eine eingeführt würde – Jahre der Planung, die Finanzierung – können 20 Jahre vergehen. Ich bin dann 60. Kurz vor Bären-Ticket.
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Man sehe sich Hohenlimburg an. Vor nicht mal 50 Jahren eingemeindet. Das ist nicht viel. Im Gegenteil. Die Erinnerungskultur mancher 50-, 60-, 70- oder 80-Jähriger lässt dieses eigenständige Hohenlimburg bis heute irgendwie weiterleben. Ein Versuch soll gar unternommen werden, die Eigenständigkeit noch einmal herbeizuführen. Realistisch in meinen noch 40,4 Lebensjahren. Ich glaube das eher nicht.
„Bis zum Jahr 2062 werden wir Maschinen entwickelt haben, die so intelligent sind wie wir“, prognostiziert Toby Walsh, einer der weltweit führenden Wissenschaftler auf dem Feld der künstlichen Intelligenz. Passenderweise heißt eines seiner Bücher „2062“, also knapp mein prognostiziertes Todesjahr. Er hat es 2019 geschrieben. Nicht ahnend, dass bereits dieses Jahr „Chat GPT“ erfunden wurde. Ein künstlich intelligentes Chatprogramm, das nahezu alles kann. Programmieren, schreiben, rechnen, musizieren. Es lernt mit jeder Frage.
Eine schuldenfreie Stadt Hagen? Tja, den Schuldenschnitt könnte ich erleben. Eine Frau als Oberbürgermeisterin? Auch. Vielleicht nutze ich aber auch das ganze Zahlenspiel und mache mich frei.
Carpe diem.
Hier und Jetzt.
Just do it.
Für alle, die mitrechnen wollen. Das geht unter www.it.nrw. Einfach nach „Sterbetafel“ suchen….