Hagen. Tatiana Micheli aus Hagen plante schon ihren Tod. Jetzt schenkt ein Medikament ihr mehr Lebenszeit. Über Hoffnungslosigkeit, viele Reisen und Mut
Dass sie hier im Café sitzen und Kaffee trinken kann, ist nicht selbstverständlich. Es ist nicht mal selbstverständlich, dass sie noch lebt. „Ich hatte eigentlich schon meinen Tod geplant, mit dem Leben abgeschlossen“, sagt Tatiana Micheli. Sie hat Tränen in den Augen. Nicht vor Traurigkeit. Oder weil sie daran denkt, dass ihr Leben irgendwann bald vorbei ist. „Es ist, weil ich so froh bin, dass ich noch leben darf. Dass ich seit meiner ersten Diagnose vor sieben Jahren so viel erleben durfte. Die Medizin hat mir mehr Lebenszeit geschenkt.“ Und: „Ich bin dankbar. Für jeden Tag, den ich habe. Für jeden noch so kleinen Moment.“
Wenn plötzlich der Tod so nah ist, dann denkt man über vieles nach. Über das, was einen erfüllt, glücklich macht. „Man hat das Gefühl, das Leben läuft einem weg.“ Diese Fragen hat Tatiana Micheli sich seit ihrer ersten Lungenkrebs-Diagnose im Jahr 2015 gestellt. 2019 kam die zweite Diagnose. 2022 die dritte. Und mit der letzten Diagnose war die Nachricht verbunden: Eine heilende Therapie gibt es nicht mehr. Keine Chemo. Keine Bestrahlung. Keine OP. Das kann der Körper nicht mehr.
„Ich habe mich schon mit den Hospizen in Hagen beschäftigt. Habe meinen Tod organisiert, mich darauf vorbereitet. Und dann gab es plötzlich doch Hoffnung. Ein neues Medikament, Lumykras, das nur bei bestimmten Lungenkarzinom-Mutationen zum Einsatz kommt. Ich habe genau diese Mutation. KRAS G12C. Die Nachricht war mein schönstes Weihnachtsgeschenk. Mein persönliches Wunder“, sagt die Hagenerin. Die Tabletten machen sie nicht gesund, aber sie schenken ihr mehr Zeit. Wie viel, das kann niemand sagen.
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Das hier ist ihre Geschichte. Eine Geschichte von Glück, Hoffnungslosigkeit, aber auch Hoffnung und Mut. Von Wanderungen auf dem Jakobsweg und Reisen in ferne Länder zu den Herr-der-Ringe-Kulissen. „Meine Geschichte soll Mut machen“, sagt die 56-Jährige gefasst. Das tut sie. Und sie inspiriert – dazu, das zu tun, was einen glücklich macht. So wie Tatiana Micheli.
„Es sieht nicht gut aus, Frau Micheli“
Niemand könnte es besser erzählen als sie selbst: „Der Körper spricht mit einem. Meiner hatte es mir gesagt, aber ich habe nicht zugehört. Ich habe oft gehustet und ich war oft müde. Dabei habe ich viel Sport gemacht, mich gesund ernährt. Ich dachte, ich hätte eine chronische Bronchitis vom Rauchen. Ich habe es ignoriert. Irgendwann war ich beim Arzt wegen eines Lipoms am Rücken. Nach der Operation unter Vollnarkose ging es mir plötzlich schlecht, ich habe Blut gespuckt, konnte kaum Laufen und hatte Anzeichen einer Lungenembolie.
Die Ärzte dachten zunächst, es könnte eine Lungenentzündung sein. Die Medikamente halfen nicht und ich wollte es noch mal abklären lassen. Es gab ein CT. Und der Arzt kam zurück und sagte: ,Es sieht nicht gut aus’. Es war ein Tumor. Die Lymphknoten waren mit betroffen. Nicht-Kleinzelliger Lungenkrebs (Typ Adeno) Stadium 3A. Rechter oberer Lungenlappen. Das hat mich umgehauen.
Ich war zuerst in einer Klinik in Hemer, wollte mir aber noch eine zweite Meinung einholen in Essen. Den Tipp gab mir eine Freundin. Da gab es einen Behandlungsplan: Erst Chemo, dann Operation und Bestrahlung. Die Chemo war schlimm. Ich konnte nicht schlafen, nicht essen, mir war fürchterlich übel. Aber ich habe es geschafft. Für die Operation bin ich zu einem bekannten Professor der Chirurgie nach Wiesbaden gefahren. Rechts wurde der oberste Lungenlappen entnommen, außerdem ein Teil der unteren Luftröhre. Die OP dauerte knapp acht Stunden.
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Ich war danach auf der Intensivstation, es folgte die Bestrahlung in Hagen. Mit Reha habe ich gut ein Jahr gebraucht, um wieder fit zu werden. Schon damals habe ich gesagt: Wenn ich das überlebe, gehe ich den Jakobsweg. Noch 2018 habe ich das gemacht. Ich habe meine Lebensversicherung aufgelöst und bin mit meinem Mann um die Welt gereist – USA, Neuseeland, Hongkong, Cook-Inseln, zu vielen Herr der Ringe-Kulissen.
„Ich wollte noch richtig leben“
Mir war klar, dass ich noch richtig leben wollte. Ich bin danach allein auf den Jakobsweg. Von Pamplona nach Santiago, 730 Kilometer. Jede Etappe habe ich Menschen gewidmet, die mir geholfen haben. Meiner Familie, den Ärzten. Ich bin damals einfach losgelaufen. Ohne Training, ohne Vorbereitung. Es war eine bereichernde Erfahrung und das Jakobsweg-Fieber hat mich gepackt. Als ich in Santiago oben auf dem Berg stand, habe ich geweint vor Freude.
Ich bin dann auch wieder arbeiten gegangen – ich war Sozialarbeiterin. Und irgendwie kehrte Alltag ein, der Krebs rückte, außer bei den Kontrollterminen, in den Hintergrund. 2019 kam dann der Rückfall. Eine Zyste auf der linken Lungenflügel-Seite fing an, sich zu verändern. Ich bin zu dem Professor, der zwischenzeitlich mit seinem Team nach Frankfurt gezogen war. Sie fanden einen neuen Tumor. Die Nachricht hat mich hart getroffen.
„Ich wollte das nicht noch mal durchmachen“
Ich wollte das nicht noch mal durchmachen. Aber ich wollte auch Leben. Also wurde ich wieder operiert. Wieder eine OP, bei der der Brustkorb komplett geöffnet und der Tumor entfernt wurde. Wieder eine Reha – aber wenigstens keine Bestrahlung, keine Chemo. Danach bin ich in die Erwerbsminderungsrente gewechselt, ich konnte nicht mehr arbeiten. Meine Lunge macht bei Anstrengung Probleme, mein Herz auch. Aber ich dachte: Ich lebe.
Mein Mann und ich sind in den Jahren danach weiter viel gereist, haben verschiedene Strecken auf dem Jakobsweg in Frankreich oder Deutschland zusammen erwandert. Auch mit einer Freundin war ich auf dem Jakobsweg in Portugal unterwegs. Wir sind nie die schnellsten, haben aber bestimmt am meisten Spaß.
„So eine Diagnose verändert einen“
So eine Krebsdiagnose verändert einen. Verändert die Sicht auf Probleme, das Leben. Auch für Angehörige und Freunde ist das schwer – zu einigen Freunden habe ich keinen Kontakt mehr. Ich konzentriere mich nur noch auf die positiven Dinge im Leben. Dinge, die mir Kraft geben, nicht nehmen. Die Natur kann einem viel geben. Gerade auch in der Coronazeit – die für alle schwierig war. Ich hatte Angst, keiner wusste, was passiert, wenn ich mich infiziere. Mittlerweile hatte ich zweimal Corona und habe es glücklicherweise gut überstanden.
Mein Leben lief also weiter. Ohne Krebs. Ich habe es einfach genossen. Plötzlich ging es mir dann aber wieder schlechter. Ich nahm ab, konnte nicht schlafen, alles war anstrengend. 2022 ist plötzlich der Tumor-Marker gestiegen, also der Entzündungswert. Auf den CTS und MRTs konnten die Ärzte zunächst nichts finden. Dann fanden sie irgendwann doch Metastasen. Der Tumor hatte gestreut. Jetzt war klar: Ich bin Palliativpatientin, plante meinen Abschied.
Und dann kam die Nachricht, kurz vor Weihnachten, dass ich eine zielgerichtete Therapie mit Lumykras bekommen kann. Mein schönstes Weihnachtsgeschenk, mein persönliches Wunder. Ich darf noch weiterleben. Auch wenn keiner weiß, wie lange. Ich habe wieder getanzt in der Stadt. Ich bin wieder gereist. Das ist meine Lebensverlängerung. Ohne die Medizin hier in Deutschland würde ich nicht mehr leben.“
„Macht, was euch glücklich macht“
Mit dieser Einschätzung hat sie sicherlich Recht: Im Juni geht es für sie wieder auf den Jakobsweg, mit ihrer Freundin, die ebenfalls Krebspatientin ist. „Wenn ich einen Rat geben würde“, sagt Tatiana Micheli: „Macht, was euch glücklich macht. Das Leben ist endlich. Sucht euch in schwierigen Situationen Hilfe. Meine Familie hat mich durch diese Zeit gebracht. Ohne sie, hätte ich es nicht geschafft. Es hilft aber auch der Austausch in Gruppen mit anderen Betroffenen oder einem Psychotherapeuten“, sagt sie und lächelt.
Sie ist dankbar. Für jeden noch so kleinen Moment. Und sei es nur ein Kaffee-Trinken in einem Innenstadtlokal mit der Reporterin. „Ich hoffe, meine Geschichte kann Mut machen“, sagt die Hagenerin. Das tut sie.