Hagen. Fritz Reunert aus Dahl starb 1941 als Soldat in Leningrad. Warum der junge Mann aus Hagen heute in einem Museum in Russland steht.
„Ob du Leningrad später einmal besucht hättest? Die wiederaufgebaute Stadt mit den restaurierten Schlössern, die ihr zusammengeschossen hattet, die Gedenkstätten, die an 600.000 Verhungerte erinnern, die auf euer Konto gehen? Oder hättest du das alles verdrängt und dich ganz der Gegenwart hingegeben, der Gegenwart einer Stadt, die angeblich an Venedig erinnert und an Versailles, deren Eremitage einen Kunstgenuss verspricht? Wir werden Leningrad besuchen, und wir werden an dich denken, an dein kurzes Leben, das vor dieser Stadt im November 1941 endete.“ (Michael Fleischer in einem Bericht über seinen Onkel Fritz Reunert).
Er starrt ins Leere. Seine Wangenknochen sind sichtbar. Gegen die eisige Kälte hat er einen Schal fest um den Kopf gebunden. Darauf sitzt der Helm, der ihn schützen soll. Das Gewehr hält er vor dem Körper. Der weite Mantel ist geöffnet.
Fritz Reunert in Leningrad. Der junge Mann aus dem Süden von Hagen, keine 20 Jahre alt, kaum erwachsen. Er steht da in einer unwirklichen Umgebung. Er starrt ins Leere. Hinein den Saal des Museums in Schlüsselburg (Russland), das die Blockade der Stadt thematisiert. Er, der Soldat, der sich 1940 freiwillig zu den Fallschirmjägern gemeldet hatte, ist hier eine Figur in einer dreidimensionalen Kriegsszenerie. Die Szene hat nur einen Fehler: Sie zeigt Leningrad im Jahr 1943. Da war Reunert längst gefallen.
Auf Spurensuche in St. Petersburg
Hans-Martin Fleischer hat Anteil daran, dass Fritz Reunert im Museum steht. Er, der Großneffe Reunerts, der heute in Berlin lebt, war 2017 nach St. Petersburg (früher Leningrad) gereist, um sich auf die Spuren seines Großonkels zu begeben. „Ein Abenteuer“, wie er heute sagt. Eines, das ihn sogar kurzfristig ins Gefängnis bringen sollte. „Als ich an einem Elektrizitätswerk Fotos gemacht haben, sind wir verhaftet worden. Man hatte mich für einen Spion gehalten. Dabei hatte ich mich nur auf die Suche nach dem genauen Ort begeben, an dem mein Großonkel gefallen ist. Das muss am Fluss Newa gewesen sein. Dort, wo heute das E-Werk steht.“
Ein Abenteuer, bei dem er eher zufällig Dmitry Poshtarenko, Direktor des Leningrad-Museums, kennenlernen sollten. „Das Museum befand sich noch im Aufbau“, sagt Hans-Martin Fleischer. „Wir sind damals einfach mal durch eine offenstehende Tür hineingeschlüpft.“ Drinnen treffen sie Poshtarenko, einen aufgeschlossenen Mann, mit dem sie sich austauschen, der sie mit zu Ausgrabungsstätten in der Nähe nimmt, dem sie die Bilder von Fritz Reunert zeigen und ihm die Geschichte des jungen Manns aus Dahl erzählen. „So ist dann die Idee entstanden, eine der Figuren als sein Ebenbild zu erschaffen. Mich selbst haben damals Mitarbeiter des Museums interviewt und ein Video von dem Gespräch aufgezeichnet.“
Vor 100 Jahren in Dahl geboren
Fritz (eigentlich Friedrich) Reunert wurde am Neujahrstag vor 100 Jahren in Dahl geboren. Seine kurze Lebensgeschichte hat Hans-Martins Vater Michael Fleischer einst zusammengestellt, als er sich als Lehrer Ende der 80er Jahre auf einen Besuch in St. Petersburg vorbereitete. Ein Bericht mit bewegenden Worten und persönlichen Interpretationen rund um jene Bilder herum, die die Jahre überdauert haben und die Fritz Reunert zeigen.
Als Kind im Matrosenanzug auf einem Gruppenbild auf dem Knie seines Vaters Fritz senior sitzend, als Jugendlichen in einem Ruderboot auf dem Hemker Teich. Dann kurze Zeit später als Hitlerjungen in Uniform, später als jungen Soldaten mit einem kindlichen Gesicht. Fritz Reunert, der Fallschirmjäger, strahlt stolz.
Jugendlicher aus Dahl wird Fallschirmjäger
Dann gibt es da dieses Foto, auf dem Reunert als Fallschirmjäger posiert. Das Gewehr neben sie auf den Boden gestellt, im Stiefel ein Messer. „Euer Sohn Fritz“ steht auf der Aufnahme, die Fritz Reunert offenbar seinen Eltern geschickt hat.
Und dann ist das noch jenes Bild, das den Soldaten im Porträt zeigt. Ein Schiffchen trägt er auf dem Kopf, die Augen sind nach oben gerichtet, blicken nicht direkt in die Kamera. Die Lippen sind verschlossen, kein Lächeln. Ein ernster Blick. Nichts scheint mehr geblieben von jenem jungen Mann, der auf einem der Bilder zuvor mit einem Lächeln in die Kamera schaute.
Mit Hitlers Truppen auf Kreta
Dazwischen liegt eine Zeit, in dem der Fallschirmjäger Fritz Reunert mit seinem Regiment Kreta überfallen hat. Kämpfe, Gefangenschaft, Tod. Es ist das letzte Bild. Dazu die Zeilen über den Sommer 1941, als Reunert noch einmal in Dahl war. Der Zug fuhr vorbei an seinem Elternhaus. Er winkte zum Abschied heraus. Es war das letzte Mal, dass seine Familie ihn sah.
„Ich glaube trotzdem nicht, dass er ein überzeugter Nationalsozialist war“, sagt Hans-Martin Fleischer. „Er war jung, geprägt durch die Hitlerjugend. Er suchte das Abenteuer. Aber er war nicht nur in Stalingrad im Einsatz. Zuvor ist er als Fallschirmjäger über Kreta abgesprungen. Seine Kompanie ist dabei unter schweren Beschuss geraten. Von 150 Soldaten haben wohl nur drei überlebt.“ Reunert ist einer davon, blieb unverletzt und stützte seine verwundeten Kameraden, geriet in englische Gefangenschaft und wurde kurze Zeit später befreit.
Erschießungen auf Kreta
Und doch sind da all die schrecklichen Erlebnisse, die dunkelsten Seiten eines Krieges, der eigentlich keine hellen Seiten haben kann. „Ich habe versucht, das nachzuverfolgen“, sagt Hans-Martin Fleischer: „Bei einer Nachbareinheit ist es auf Kreta offenbar zu Erschießungsaktionen gekommen. Das mag ein Stück entfernt gewesen sein. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Großonkel davon nichts mitbekommen hat. Das muss Thema gewesen sein.“
„Hart und Schwer traf uns die unfassbare Nachricht, dass uns lieber Sohn Fritz Reunert, nachdem er den Kampf um Kreta gut überstanden hatte, an der Ostfront im blühenden Alter von fast 19 Jahren den Heldentod fand.“ So steht in der Todesanzeige, die im Dezember 1941 erschienen ist.