Vorhalle. Vor sieben Monaten treffen wir Ukrainerin Tatjana und ihre Familie in der Notunterkunft in Hagen. Nun feiern sie in Hagen Weihnachten.
Als wir im vergangenen März in die Karl-Adam-Halle kommen, ist das Gebäude eine Notunterkunft. Feldbetten, keine Privatsphäre, nur das nötigste Hab und Gut, Körperhygiene in Umkleidebereichen, Essensbüffet im Foyer. Die meisten Gäste sind Frauen und Kinder. Ukrainer geflüchtet vor Putins Wahnsinn, dessen Grausamkeit immer noch viele zurückgelassene Familienmitglieder derer ereilt, die hier auf Feldbetten schlafen. Mittendrin: Tatjana, 38 Jahre alt, Mutter dreier Kinder, dazu ihre Nichte dabei. Und ihr Mann Eduard. Tatjana sagt damals: „Wir wollen hier ankommen.“
Sieben Monate später sehen wir uns wieder. Vor einem Weihnachtsbaum in ihrer eigenen Wohnung. Gar nicht weit weg von der Karl-Adam-Halle.
Hunderte Bomben sind auf Sumy niedergegangen seit der Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar begonnen hat. Sumy, die 270.000-Einwohner-Stadt nahe der ukrainisch-russischen Grenze ist die Heimat der Buchhalterin Tatjana, des Agrar-Managers Eduard, der gemeinsamen Kinder Alexandra (13), Timofey (7) und Katarina (10) sowie der mit nach Hagen geflüchteten Nichte Dascha (17). Knapp 50.000 Menschen haben die Stadt wegen der Kriegsbedrohung verlassen. Seit April wird sie wieder vom ukrainischen Militär kontrolliert.
Emotional schwer gezeichnet
Als wir die Familie vor sieben Monaten in der Notunterkunft treffen, ist sie emotional schwer gezeichnet. Der Heimatverlust, die Zerstörung, die Gräueltaten der russischen Armee, die zurückgelassene Familie, das fremde Land, die unbekannte Sprache, die fehlende Privatsphäre, der Behörden-Dschungel. Tatjana ist taff, zeigt Rückgrat, auch vor den Kindern. Trotzdem fließen immer wieder Tränen.
Jetzt treffen wir uns in der eigenen Wohnung der Familie, die die Stadt für sie angemietet hat. In Vorhalle, unweit der einstigen Notunterkunft. Sohn Timofey hat gerade noch Hausaufgaben gemacht, Tatjana und Tochter Alexandra kochen, Vater Eduard räumt auf. Es herrscht, soweit das möglich ist, eine gewisse Normalität. Tatjana und Eduard berichten, wie sie mit ihrer Tochter Katarina mit dem Zug bis ins Rheinland fahren, damit sie mehrmals die Woche dort in einem ambitionierten Aerobic-Team trainieren kann. Katarina ist sehr talentiert. In Sumy in der Ukraine war sie bereits in einem solchen Club.
Wie findet man die Heimat vor?
Nichte Dascha will bald eine Lehre als Zahnarzthelferin beginnen, Eduard berichtet, dass er regelmäßig am Training einer Fußball-Hobby-Truppe auf dem Vossacker-Kunstrasenplatz teilnimmt. Wenn man so will, macht die Familien alles, was viele Familien in Vorhalle tun. Und doch sind ihr Kontext und ihre Perspektive ganz andere.
Wann können sie zurück in die Heimat? Können sie das mittelfristig überhaupt? Wird es einen Punkt geben, an dem es angesichts des Integrationsfortschritts auch wieder schwierig werden kann, Deutschland zu verlassen? Und überhaupt: Wie findet man sein Zuhause vor, wenn man zurückkehrt?
Sie haben sich einen Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer gestellt. Es ist gemütlich. Heiligabend findet in der Ukraine am 6. Januar statt. Zu Weihnachten versammeln sich die engeren Verwandten und nicht nur der Familienkern in der Ukraine. Es gibt also eine Abgrenzung zum Weihnachtsfest, wie wir es hierzulande feiern und beschreibt das, was die Ukrainer als „Familienfest“ verstehen. Der 7. Januar ist folglich der Erste Weihnachtsfeiertag, der 8. Januar der zweite. Übrigens: der Tag der Sternsinger in der Ukraine.
In Sumy gibt es kein Wasser und keinen Strom, weil die ukrainische Infrastruktur von den Russen angegriffen und zerstört wird. „Immer nur zwei Stunden lang sind Wasser und Strom da“, sagt Tatjana. Es sind Weihnachtstage für die sechsköpfige Familie zwischen Hoffnung und Perspektivlosigkeit.