Berchum. Bäuerliches Idyll pur: Wer Tiefendorf erreicht, hat alles Großstädtische längst hinter sich. Und dennoch gehört dieser kleine Kosmos zu Hagen.

Wer in Tiefendorf als Besucher zwischen den abgelegenen Gehöften, Stallungen und Wohnhäusern herumschleicht, fällt sofort auf. Hier kennt nun wirklich jeder jeden. Zufällig verirrt sich niemand in den abgelegenen Weiher, der noch einmal drei Kilometer hinter dem Dorfkern von Berchum auf den Höhen abseits der Großstadt schlummert. Im Niemandsland zwischen Hagen sowie dem Märkischen Kreis und dem Kreis Unna käme niemand auf die Idee, dass mit dem Ruhrgebiet eine der größten Industrieregionen auf diesem Erdball direkt vor der Tür liegt.

Wie aus einem Werbeprospekt: Die Landwirtschaft prägt den Alltag in Tiefendorf – noch einmal drei Kilometer hinter Berchum.
Wie aus einem Werbeprospekt: Die Landwirtschaft prägt den Alltag in Tiefendorf – noch einmal drei Kilometer hinter Berchum. © Michael Kleinrensing

Beim Spaziergang über die schmale Fahrstraße packen einen die Reize der Natur. Von Agrarwirtschaft geprägte Kulturlandschaft wechselt sich mit stattlichen Wäldern am Horizont ab, bei denen nicht bloß die Hochstände vermuten lassen, dass reichlich Wild sich hier tummelt. Direkt neben dem Zusammenfluss von Else- und Wannebach dominiert das Zwitschern der Vögel im Kanon mit den spontan gemuhten Symphonien aus den Kuhställen die Geräuschkulisse.

Wurzeln im 9. Jahrhundert

Lediglich die Überflüge der Passagierflugzeuge oder die Motoren der wenigen Autofahrer aus dem Dorf unterbrechen den Soundtrack der Natur. Wer hier keinen Pkw besitzt, ist von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten. Tiefendorf ist ein Höhendorf. Der Name verrät also rein gar nichts über die Lage der abgelegenen Siedlung, durch die sich die SGV-Wanderwege A1 und A2 schlängeln.

Vielmehr, so die Recherchen der Heimatkundigen, führt die Ortsbezeichnung ins 9. Jahrhundert zurück. Damals soll ein Gefolgsmann des Frankenkönigs Karl der Große namens „Tevo“ oder „Devo“ im Rahmen der Sachsenkriege kurz vor Berchum sich niedergelassen und der Örtlichkeit seinen Namen gegeben haben. Ob es allein die Schönheit der Landschaft war, die ihn faszinierte, oder auch die Reize einer Gespielin eine Rolle gespielt haben – reichlich Raum für romantische Fantasien.

Stallungen und Reitwege machen Tiefendorf inzwischen auch zu einer beliebten Anlaufstelle für Pferdefreunde.
Stallungen und Reitwege machen Tiefendorf inzwischen auch zu einer beliebten Anlaufstelle für Pferdefreunde. © WP | Michael Kleinrensing

Für derartige Gedankenspielereien bietet der Alltag von Dirk Hüsecken allerdings weniger Raum. Zusammen mit seinem Bruder Ulrich kümmert sich der Landwirt in Tiefendorf um 250 Kühe.

Der 57-Jährige setzt dabei die Tradition seines Vaters fort und ist zugleich froh, dass seine Töchter den Betrieb, der den Rhythmus in Tiefendorf dominiert, in der nächsten Generation fortführen wollen.

Neben der Milch- und Fleischproduktion sorgt auch die Haltung von Pensionspferden für das wirtschaftliche Auskommen der Familien. Die angrenzenden Reitwege machen es vorzugsweise für Städter attraktiv, Tiefendorf zum Ausgangspunkt für Ausritte zu machen. Dass dies regelmäßig geschieht, beweisen die Hinterlassenschaften auf der Straße, die definitiv nicht ausschließlich von Misttransporten aus den Rinderstallungen herrühren.

Lust auf Abgeschiedenheit

„Unser Alltag hat viel mit Verantwortung zu tun“, hat Dirk Hüsecken stets seine Tiere im Fokus. Zwar hat sich der Tiefendorfer dieser Tage auch mal eine Auszeit an der Ostsee gegönnt. Doch eine Städtereise wäre für den Landwirt ohnehin nicht in Frage gekommen. Nicht bloß die „Eingeborenen“ wissen die Ruhe der Gemächlichkeit abseits des Großstadttrubels zu schätzen. Als neulich mal eine Wohnung in einem der Gehöfte frei wurde, hat ein Nachbar diese im Internet inseriert: „Nach zwei Stunden gab es schon 700 Anfragen“, beschreibt Hüsecken die offenkundige Sehnsucht der Menschen nach absoluter Abgeschiedenheit.

Der Briefkasten im Herzen von Tiefendorf ist letztlich die einzige öffentliche Infrastruktureinrichtung, die in der Ortslage verblieben ist.
Der Briefkasten im Herzen von Tiefendorf ist letztlich die einzige öffentliche Infrastruktureinrichtung, die in der Ortslage verblieben ist. © WP | Michael Kleinrensing

In früheren Jahrzehnten, damals gehörte Tiefendorf noch zum Märkischen Kreis, bildete das Gasthaus „Zur Lindenschänke“ das Zentrum der Ortslage. Heute hat sich die Kneipe in ein Wohnhaus verwandelt. Als letztes Infrastrukturangebot ist heute bloß noch der knatschgelbe Briefkasten geblieben. Ein Schulbus fährt derweil schon lange nicht mehr – nicht einmal ein halbes Dutzend Kinder, das für einen Pendeltransport in Frage käme, ist auf die täglichen Fahrdienste seiner Eltern angewiesen.

Ein Korb für den Golfclub

Vor gar nicht allzu langer Zeit streckte noch der Märkische Golfclub, der mit seinen gepflegten Grüns zwischen Berchum und Tiefendorf das Landschaftsbild prägt, seine Hände nach den Futterwiesen der Tiefendorfer Landwirte-Familien aus. Durch Flächenzukäufe sollte aus einer 9-Loch- eine 18-Loch-Anlage entstehen. Gelände-Avancen, die inzwischen längst vom Tisch sind. Für die Hüseckens war es seinerzeit eine Existenzfrage.

Die landwirtschaftlichen Flächen rund um Tiefendorf weckten einst die Begehrlichkeiten des Golfclubs. Doch die Wiesen werden für die Versorgung der Tiere benötigt.
Die landwirtschaftlichen Flächen rund um Tiefendorf weckten einst die Begehrlichkeiten des Golfclubs. Doch die Wiesen werden für die Versorgung der Tiere benötigt. © WP | Michael Kleinrensing

Wieder steuert ein roter Kleinwagen über den schmalen Asphalt der Ortslage, wo auch der Straßenname in schlichter Präzision „Tiefendorf“ lautet. Die Frau am Steuer muss die Vorräte im Kühlschrank auffüllen.

Wer hier den nächsten Supermarkt als Ziel hat, steuert Ergste, Letmathe oder eben Hohenlimburg an. Kaum ist der Wagen verschwunden, herrscht wieder absolute Ruhe zwischen den Wohnhäusern vorzugsweise in Fachwerk- und Backstein-Optik.

Und weil die Menschen hier oben von der Landwirtschaft mit offenen Ställen und Pferdekoppel im Ortskern offenkundig gar nicht genug bekommen können, zieren den Vorgarten eines Häuschens sogar noch zwei stattliche Kunststoff-Kühe. Stilecht, aber bei weitem nicht so authentisch wie die vielen Originale, die dem ungebetenen Besucher aus ihren Boxen beim Abschied neugierig hinterherblicken.