Hohenlimburg. Vor 43 Jahren fiel ein Junge in den Nahmerbach in Hohenlimburg. Gefunden wurde er nie. Seine Familie muss bis heute mit offenen Fragen leben

Es ist 43 Jahre her, dass der kleine Erdin Akcora verschwand. An seinem fünften Geburtstag spielte er am Nahmerbach und wurde dabei in die Fluten gerissen, so berichtete es diese Zeitung damals. Gefunden wurde er – trotz wochenlanger Suche – nie. Der Junge hinterließ eine Lücke, mit der seine Familie bis heute leben muss.

Heftiger Starkregen

Dabei weiß niemand genau, was am 12. Dezember 1979 in einem kleinen Wohngebiet im Nahmertal genau passiert ist. Erdin Akcora war draußen vor dem Haus an der Wuragstraße, wenige Meter entfernt floss der Nahmerbach. Der Bach war in dieser Zeit höher als sonst, denn heftiger Starkregen hatte die Bäche und die Lenne anschwellen lassen. Hochwasser in Hohenlimburg, das ist kein neues Thema.

+++ Lesen Sie auch: Hohenlimburg: Jahrhundert-Flut spült Fachwerk-Traum weg +++

Anders als im vergangenen Jahr brachte die Starkregen-Flut vor 43 Jahren nicht nur schwere Sachschäden, sondern forderte auch ein Menschenleben. So wurde es zumindest in dieser Zeitung berichtet. Denn beim Spielen am Nahmerbach soll Erdin Akcora in der Nähe der Wuragstraße ins Wasser gefallen und durch die starke Strömung sofort abgetrieben worden sein. In den Flussunterführungen, wo der Bach weiter bis zur Lenne fließt, verlor sich die Spur. Es hieß, ein Spielkamerad habe den Jungen in den Nahmerbach fallen sehen und sofort Hilfe geholt. Doch diese Version hat sich in der Familie nicht festgesetzt.

Der Nahmerbach schlängelt sich an Fabriken vorbei und verläuft teils unterirdisch durch Rohrsysteme.
Der Nahmerbach schlängelt sich an Fabriken vorbei und verläuft teils unterirdisch durch Rohrsysteme. © Archiv Heimatverein Hohenlimburg

Verschiedene Erzählungen

Furkan Usanmaz ist der Neffe des verschollenen Jungen, wäre dieser heute noch am Leben. Seine Mutter, die Schwester des Verschollenen, wollte nicht in die Öffentlichkeit. Zu groß sei bis heute der Schmerz, wenn an das Geschehene erinnert wird, sagt Usanmaz. Für den 23-Jährigen aber ist es wichtig, jede noch so kleine Chance auf mehr Gewissheit zu nutzen. Und wenn dieser Bericht in der Zeitung dazu beiträgt, den Fall neu in Erinnerung zu rufen und neue Zeugen zu finden, umso besser. „Ich habe einen Onkel, der vielleicht noch am Leben sein könnte. Ich möchte wissen, was wirklich passiert ist.“

Große Suchaktion

Doch nach mehr als vier Jahrzehnten sind viele Spuren verblasst. Von einem Spielgefährten, der Erdin Akcora ins Wasser hat fallen sehen, wisse die Familie nichts, sagt Furkan Usanmaz. Nur von einer älteren Dame, die es gesehen und gemeldet haben soll. Wer die Dame war? Er weiß es nicht. Fakt ist, dass nach dem Verschwinden von Erdin Akcora sofort eine große Suchaktion angelaufen ist. Die Feuerwehr setzte Taucher ein, die den Jungen auch in den Flussunterführungen suchten. Denn bis der Nahmerbach in die Lenne mündet, schlängelt sich der Fluss teils unterirdisch an der ansässigen Industrie entlang, durch viele Rohre und Durchläufe. Um den Wasserspiegel für die Suche in den Rohrsystemen zu senken, wurde das Wehr oberhalb des Tales zwei Mal geschlossen. Dieses Wehr staute den Koenigsee, damals stattliches Gewässer im Nahmertal.

Der Koenigsee war ein Stauteich im Nahmertal und galt als kleinste Talsperre Deutschlands. Über ein Wehr floss der Nahmerbach das Tal hinab in die Lenne. Wenige hundert Meter hinter dem Wehr liegt die Wuragstraße, wo Erdin Akcora verschwand.
Der Koenigsee war ein Stauteich im Nahmertal und galt als kleinste Talsperre Deutschlands. Über ein Wehr floss der Nahmerbach das Tal hinab in die Lenne. Wenige hundert Meter hinter dem Wehr liegt die Wuragstraße, wo Erdin Akcora verschwand. © Archiv Heimatverein Hohenlimburg

Hubschrauber im Einsatz

Auf der Suche nach dem Kind flogen zudem mehrere Polizeihubschrauber am Himmel über dem Tal, den Nahmerbach entlang bis zur Lenne und weiter bis zum Hengsteysee. Die Feuerwehr spannte eine Fangleine , wo der Nahmerbach in die Lenne mündet. Doch die Anstrengungen blieben ohne Erfolg. Erdin Akcora blieb verschwunden.

Gewissheit fehlt

Sein Bruder Ahmet Akcora kann sich heute nur sehr schwammig an diesen Tag zurückerinnern. Er war damals zehn Jahre alt. „Ich kam gerade von der Schule und bin aus dem Bus ausgestiegen, da haben es mir meine Eltern erzählt“, berichtet der heute 52-Jährige. „Ich wusste gar nicht, was los war.“ Viele hätten ihn gesucht, „auch viele Verwandte sind immer wieder an der Lenne entlang gegangen“, erinnert sich Ahmet Akcora. „Aber er wurde nicht gefunden. Deswegen haben wir gedacht, dass er vielleicht aus einem anderen Grund verschwunden ist. Wir wissen es ja nicht.“

Ein Bild aus dem Archiv: Diese Zeitung berichtete am 13. Dezember 1979 über den vermissten Jungen und die große Suchaktion an Nahmerbach und Lenne. Hier zu sehen Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr. Auch Taucher wurden eingesetzt, die den Bach durchkämmten.
Ein Bild aus dem Archiv: Diese Zeitung berichtete am 13. Dezember 1979 über den vermissten Jungen und die große Suchaktion an Nahmerbach und Lenne. Hier zu sehen Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr. Auch Taucher wurden eingesetzt, die den Bach durchkämmten. © WR Archiv Hohenlimburg

Gerüchte breiten sich aus

Vielleicht ist das Kind nie in den Bach gefallen? Vielleicht wurde er entführt? Vielleicht lebt er noch? Viele Gedanken gehen den Angehörigen bis heute durch den Kopf. Belege gibt es keine. Und wo Gewissheiten fehlen, da breiten sich Gerüchte aus. Was zum Teil gesagt wurde, war für die Angehörigen nur schwer zu ertragen. So gab es in ihrem Wohngebiet einen Jungen, der behauptete, er habe Erdin Akcora in den Bach geworfen. „Wir wissen nicht, was aus diesem Jungen geworden ist. Wir wissen nur, dass er psychisch krank war und mit seiner Familie irgendwann zurück in die Türkei geflogen ist“, sagt Furkan Usanmaz.

Keine neue Spur

Mehrere Tage wurde die Suche nach dem verschollenen Kind fortgesetzt. Drei Wochen später berichtete diese Zeitung, dass er weiter vermisst wird. Da jeder Ansatz für weitere Ermittlungen fehlte, wurde die Akte geschlossen. Der bittere, aber alltägliche Gang der Dinge. Das Leben muss weitergehen.

Zurück blieb eine Familie türkischer Gastarbeiter, die damals mit ihren Fragen und ihrem Schmerz alleine fertig werden musste. Psychologische Betreuung gab es nicht. Die Eltern des verschollenen Kindes sprachen nur türkisch. „Sie wussten nicht, an wen sie sich hätten wenden sollen. Deshalb haben sie nie Unterstützung bekommen“, sagt Usanmaz. „Heute gäbe es da ganz andere Möglichkeiten.“

Bruder geht zum DLRG

Der 23-Jährige ist mit der Lücke, die der bis heute verschollene Junge hinterlassen hat, aufgewachsen. Der Verlust des Kindes hat das Leben der Familie geprägt. „Meine Mutter hat immer auf mich aufgepasst und mich nicht alleine rausgelassen“, berichtet Usanmaz. „Sie hatte immer Angst, dass mir auch etwas passiert.“ Ahmet Akcora, der Bruder des Verschollenen, ging später zum DLRG Hohenlimburg und achtete mit darauf, dass andere Menschen nicht in den hiesigen Gewässern ertrinken. Zweimal konnte er jemanden retten, berichtet der 52-Jährige. Er lebt und arbeitet bis heute in Hohenlimburg, nur wenige Fahrminuten von dem Ort entfernt, wo sein Bruder vor 43 Jahren verschwand. Manchmal geht er am Nahmerbach spazieren, erzählt Ahmet Akcora. „Dann gucke ich immer mal in den Bach und bin in Gedanken bei ihm.“

Ehemaliger Stausee

Der Koenigsee war ein Stauteich im Nahmertal, der vor gut 100 Jahren angelegt wurde und die Werke in der Obernahmer mit Kühlwasser versorgte. Er galt als kleinste Talsperre Deutschlands. Über ein Wehr floss der Nahmerbach das Tal hinab in die Lenne.

Nachdem Krupp die Produktion in der Nahmer im Jahr 1995 eingestellt hatte, wurde auch der Koenigsee abgelassen. Heute befindet sich an der Stelle des Gewässers ein Biotop.