Hagen. Nach dem vereitelten Terroranschlag auf die Hagener Synagoge spricht nun ein besonderes Team. Es schützt Menschen vor Radikalisierung.
Dass der Abend des 15. Septembers 2021 nicht als einer der grauenvollsten in die Geschichte der Stadt eingegangen ist, ist vielen Kräften zu verdanken. Allen voran einem ausländischen Geheimdienst, der den deutschen Behörden den wertvollen Hinweis gab, dass ein 16-jähriger Syrer möglicherweise an diesem Abend eine Bombe in der Synagoge der jüdischen Gemeinde an der Potthofstraße zünden könnte. An Jom Kippur, dem Versöhnungstag – höchster Feiertag der Juden. Seither sitzt der 16-Jährige in Untersuchungshaft und es bleiben so viele Fragen offen. Unter anderem die, wie ein 16-Jähriger sich so radikalisieren kann, einen solchen Schritt zu gehen. Das Team der „Wegweiser“-Beratungsstelle ist vor diesem Hintergrund der richtige Anlaufpunkt in Hagen.
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Hagen: Den islamistischen „Rattenfängern“ soll Wasser abgegraben werden
Der Mitarbeiter bleibt namentlich im Verborgenen. Das sagt bereits etwas darüber aus, in welch hochsensiblem Feld die Beratenden unterwegs sind. 2019 war die Beratungsstelle von NRW-Innenminister Herbert Reul und NRW-Verfassungsschutzpräsident Burkhard Freier persönlich eingeweiht worden. Reul wurde damals deutlich: „Wir müssen den islamistischen Rattenfängern das Wasser abgraben.“
„Wegweiser“ ist ein Präventionsprogramm des Verfassungsschutzes, das verhindern soll, dass junge Menschen in den Salafismus abrutschen oder sich anderweitig radikalisieren. Das größte Rekrutierungspotenzial sehen Salafisten unter Jugendlichen, die in ihrer Such- und Findungsphase leichter zu manipulieren sind.
Hagen: Wegweiser-Team versucht Täter-Perspektive einzunehmen
Auf den konkreten Fall des 16-jährigen Syrers bezogen, kann der „Wegweiser“-Mitarbeiter im Gespräch nicht eingehen, weil er die Hintergründe schlicht nicht kennt und das somit unseriös wäre. Erfahrung hat man hier in der Anlaufstelle mit derartigen Radikalisierungen aber sehr wohl. Und ohnehin zeigt der Besuch, dass es fernab einer geplanten Straftat, der öffentlichen Bestürzung und auch der Wut über den vermeintlichen Täter auch eine weitere Perspektive gibt: die des Täters nämlich. „Wir versuchen, uns in diese jungen Menschen hineinzuversetzen. Was treibt sie an? Ich muss verstehen, was die Auslöserfaktoren sind“, sagt der Mitarbeiter.
Hagen: Es zeichnen sich immer wieder die gleichen Muster heraus
Niemand entscheide von jetzt auf gleich, sich eine Anleitung zum Bombenbau zu besorgen oder Anschläge zu planen. Es zeichnen sich aber Muster heraus, die den Mitarbeitenden so immer wieder begegnen. Prekäre Familienverhältnisse durch Flucht, Trennung, Isolation in der Stadtgesellschaft, fehlende Mittel, vor allem eine fehlende Zukunftsperspektive. Eine Mischung, die die „Rattenfänger“ von denen Innenminister Reul sprach, förmlich anzieht.
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„Ihre Ideologie bietet solchen Jugendlichen oft an, was sie suchen. Und oft haben die Islamisten ähnliche Lebenswege beschritten“, sagt der Mitarbeiter. Das nicht nur solche, sondern auch kampferfahrene Radikalisierte hier in Deutschland, auch in Hagen, Unterschlupf suchen, hatte Minister Reul kurz nach der Festnahme des 16-Jährigen in einer Pressekonferenz berichtet. Allein zum Zeitpunkt der Eröffnung der „Wegweiser“-Beratungsstelle lebten in Hagen laut Verfassungsschutz 200 extreme Salafisten. Dunkelziffer: unbekannt.
Hagener Synagoge als präzises Anschlagsziel an Jom Kippur genannt
Dass die Situation des am 16. September festgenommenen Jugendlichen so ähnlich ausgesehen haben muss, ist nicht verifiziert, aber durchaus so interpretierbar. Im Zuge des Familiennachzugs war er nach Hagen gekommen und gilt als geduldet. Ein Spezialeinsatzkommando griff den Jugendlichen vor einer Schule in Hagen auf. In Chats über den Nachrichtendienst Telegram soll er mit einem Islamisten über dem Bau einer Bombe beratschlagt und sehr präzise erklärt haben, die Hagener Synagoge am Jom-Kippur-Tag als Anschlagsziel im Auge zu haben.
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Seither sitzt er in Untersuchungshaft. Bei weiteren Durchsuchungen fanden die Ermittler laut den Behörden noch propagandistisches Material. Bomben-Equipment aber nicht.
Reine Präventionsarbeit: Wegweiser-Team geht auch in die Schulen
Wo das „Wegweiser“-Team seine Arbeit macht, da ist es noch gar nicht so weit gekommen, wie im gerade beschriebenen Fall. Es handelt sich um Präventionsarbeit. „Wir wollen den Ausstieg vor dem Einstieg verhindern“, sagt der Mitarbeiter. Die „Wegweiser“-Mitarbeitenden haben in Hagen ein Netzwerk aufgebaut und kooperieren mit Kindergärten, Schulen und Jugendeinrichtungen.
„Wobei wir uns nicht nur auf Radikalisierungen versteifen, sondern jungen Erwachsenen helfen, aus ihrer schwierigen Situation herauszukommen, um sie für den Umgang damit zu stärken und zu verhindern, dass junge Menschen mit islamistischen Ideen sympathisieren.“ Für eben solche Menschen entwickelt „Wegweiser“ Narrative. Sinnstiftende Erzählungen, die Einfluss darauf haben, wie die Umwelt wahrgenommen wird.
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Grundsätzlich, und so viel könne man dann eben doch über den jungen, festgenommenen Mann sagen, sei das kein Phänomen, das Hagen exklusiv für sich beanspruchen müsse. Auch nicht, wenn die Sozialstruktur mancherorts in der Stadt schwieriger sei.
Altbekanntem wieder zuwenden und die Frage „Abschieben oder nicht?“
„Viele, die hier herkommen und deren Perspektive fortan unklar bleibt, wenden sich leicht wieder Altbekanntem zu. Aber mit vielen dieser Menschen kann man arbeiten“, sagt der „Wegweiser“-Mitarbeiter. Und damit möchte er gleichsam ein Zeichen in die Gesellschaft senden. Auch angesichts der immer wieder schnell bemühten Frage in diesen Fällen „Abschieben oder nicht?“
„Wir haben in Deutschland viele Instrumentarien und Angebote, um solchen Menschen zu helfen. Wir sind eines davon. Man darf der Gesellschaft an dieser Stelle auch signalisieren, dass wir wachsam sind.“ Das habe das schnelle Zugreifen im Synagogen-Fall zudem auch auf behördlicher Ebene gezeigt.
200 Personen Teil des Aussteigerprogramms Islamismus
Im Übrigen gibt es über die „Wegweiser“-Ebene hinaus auch ein Aussteigerprogramm Islamismus, das beim Verfassungsschutz angesiedelt ist. Auf Anfrage der Redaktion beim Innenministerium heißt es: „Insgesamt hat sich das Aussteigerprogramm Islamismus (API) bislang mit über 200 Personen aus der islamistischen Szene beschäftigt und begleitet gleichzeitig zwischen 50 und 60 Personen intensiv in ihrem Ausstiegsprozess, viele davon als Inhaftierte in Justizvollzugsanstalten.
In rund 30 Fällen ist ein Ausstieg bereits gelungen. Ob darunter Betroffene aus Hagen sind oder wie viele Fälle es in Hagen bereits gegeben hat, darüber macht das Innenministerium keine Angaben.