Hagen. Acht Damenhemden, fünf Schlüpfer und 13 Paar Strümpfe wurden Ilse Mitze zum Verhängnis. Die junge Frau aus Hagen starb unter der Guillotine.
Ilse Mitze war erst 19 Jahre alt, als sie unter dem Fallbeil starb. Sie ist ein Beispiel für die obsessive Beflissenheit, mit der die Nationalsozialisten in den letzten Kriegsjahren den Kreis ihrer Opfer erweiterten. Ilse Mitze war weder Jüdin noch politisch aktiv. Sie starb als „Volksschädling“. Ihr Verbrechen: Sie hatte acht Damenhemden, fünf Schlüpfer und 13 Paar Strümpfe gestohlen.
Wir schreiben den 1. Oktober 1943, als die britische Royal Airforce den ersten Großangriff auf Hagen flog. 263 Menschen starben im Bombenhagel. Die Pauluskirche in Wehringhausen wurde komplett zerstört (und erst 1954 wieder aufgebaut), und auch das Haus in der Augustastraße 11, in dem Ilse Mitze als Dienstmädchen tätig war, brannte lichterloh.
Mutter starb während der Geburt
Während die anderen Bewohner in einen der Bunker in der Innenstadt flüchteten, blieb Ilse Mitze im Haus und rettete, was zu retten war. Zwei Stunden lang barg sie zahlreiche Dinge aus den brennenden Wohnungen und brachte sie in den Keller.
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Die junge Frau, geboren am 14. Februar 1925, hatte ihre Mutter bei der Geburt verloren. Der Vater, ein Malermeister, starb, als sie 16 war. Ilse Mitze brach nach der Schule einen Nähkursus ab und verdingte sich als Hausmädchen in der Augustastraße.
Die Familie, bei der sie arbeitete, sagte später aus, sie sei fleißig und ordentlich gewesen, habe sich jedoch an den Süßigkeiten der Kinder vergriffen und mehrmals einen jungen Mann bei sich übernachten lassen – was nach den damaligen Zeitbegriffen als ungehörig und unmoralisch galt.
Sogar Gestapo fand das Todesurteil zu hart
Wenige Wochen nach der Bombennacht fand man in einem Koffer von Ilse Mitze die erwähnten Kleidungsstücke, die sie offenbar in verwüsteten Häusern an sich genommen hatte. Vom Sondergericht Hagen, dessen Vorsitz der für seine Gnadenlosigkeit bekannte Richter Ernst Eckardt führte, wurde sie, obwohl als 18-Jährige damals noch minderjährig, zum Tode verurteilt.
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Selbst der Gestapo sei das Urteil zu hart erschienen, hat Pablo Arias, Lehrer am Rahel-Varnhagen-Kolleg, recherchiert: „Auch in der Hagener Bevölkerung herrschte Unmut, weil eine so junge Frau wegen so einer Lappalie hingerichtet werden sollte.“
Pseudowissenschaftliches Gutachten
Vielleicht hätte der Hagener Amtsarzt Dr. Scheulen das Leben des Mädchens mit einer halbwegs ehrlichen Expertise retten können, doch der Schreibtischtäter hatte anderes im Sinn. In einem pseudowissenschaftlichen Gutachten für die Gerichtsverhandlung wurde Ilse Mitze als „dumme, freche und lügenhafte Psychopathin“ beschrieben, deren „Einsicht ihrer Dummheit“ in keiner Weise nachstehe.
Dermaßen herabgewürdigt, konnte die junge Frau kaum auf ein mildes Urteil hoffen, so Arias: „Für die Nazi-Justiz spielte der Charakter des Täters ja oft eine wichtigere Rolle als die eigentliche Tat. Und Volksschädlinge waren auszumerzen.“
Ein Stein für Julius Weiß
In der Augustastraße 77 verlegte Gunter Demnig am Montag einen weiteren Stolperstein.
Dort lebte Julius Weiß. Er ist der erste Sinto in Hagen, der in Hagen einen Stolperstein bekommt.
Weiß wurde 1939 die Eheschließung mit seiner Braut in Hagen von den Nazis untersagt. Begründung: Als „Abkömmling von Zigeunern“ durfte er keine deutsche Frau heiraten.
Ab 1940 saß er vier Jahre in einem KZ. Julius Weiß starb 2005 in Hamm.
Am 17. Mai 1944, inzwischen 19 geworden, wurde Ilse Mitze in Dortmund hingerichtet. Wie weitere 300 NS-Opfer starb sie unter der Guillotine im „Lübecker Hof“ der heutigen Justizvollzugsanstalt Dortmund, und das wahrscheinlich nicht allein.
Im „Interesse der Kostenersparnis“ wurden Einzelvollstreckungen tunlichst vermieden und möglichst mehrere Vollstreckungen an einem Tage durchgeführt – das Justizpersonal sprach von „Schlachttagen“, an denen der Henker Menschen im Akkord tötete.
Seit Montag erinnert nun ein Stolperstein, verlegt von dem Bildhauer Gunter Demnig vor jenem Haus, in dem Ilse Mitze als Hausmädchen arbeitete, an die Ermordete. Pfarrer Martin Schwerdtfeger, der den Stein finanziert hatte, hielt inne, als er an einen Menschen erinnerte, der in einer Zeit unerhörter Brutalität lebte: „Wir sind dazu da, Leben zu fördern und nicht, es zu zerstören.“