Hohenlimburg. Erst die Pandemie, jetzt streikt der Aufzug. Ein Gespräch im achten Stock mit der Hohenlimburgerin Rita Meiwald über Freiheit und Sehnsucht.

Wenn Beschneidungsfeiern stattgefunden haben, dann war Rita Meiwald eingeladen. Auch zu Hochzeiten. Und als sie vor der Pandemie mal in einem Café saß, hielt plötzlich ein Wagen vor ihr an. Ein türkischer junger Mann stieg aus, lief auf sie zu und umarmte sie mit den Worten „Tante Rita, geht es dir gut?“. Das Hochhaus in der Mozartstraße, in dem die 85-Jährige lebt, ist in bislang 50 Jahren wie eine Siedlung der Kulturen für sie gewesen. Polen, Russen, Türken, die Meiwalds. So viel Zusammenhalt und Solidarität, dass man es sich in keinem Ministerium annähernd besser ausdenken könnte, wie Integration in diesem elfstöckigen Hochhaus funktioniert hat. Jetzt ist 2021. Monat 13 der Corona-Pandemie. Distanz ist das Gebot der Stunde, und der Fahrstuhl fährt seit zwei Wochen nicht mehr. Ein stellvertretendes Gespräch im achten Stock über die Würde des Alterns, den Wunsch, Bekannte zu sehen, das Gefühl, gefangen zu sein und die Rückschau auf das Leben. Stellvertretend, weil so viele Menschen in Hagen aktuell genauso fühlen.

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Keine Reaktion auf eine Anfrage an die Wohnungsgesellschaft

Am Ende wird Rita Maiwald zum Reporter das sagen, was jedes Enkel-Herz früher höher springen ließ, bevor man Großmutters Wohnung verließ. „Möchten Sie sich noch eine Schokolade mitnehmen?“. Schokolade ist an diesem Tag genug da. Die Osterpäckchen für die sieben Urenkel stehen noch in der Diele. Corona wütet, und der Aufzug hat – mal wieder – den Geist aufgegeben. Acht Stockwerke zu Fuß über ein kaltes, abgelatschtes Betontreppenhaus trennen den Besucher von Rita Meiwald. Wann der Fahrstuhl wieder fährt, weiß keiner. Die große Wohnungsgesellschaft – der fünfte oder sechste Hausbesitzer in 50 Jahren – kann das nicht sagen. Auf Anfrage unserer Zeitung gibt es keine Antwort.

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Rita Meiwald war die allererste Mieterin im gesamtem Hochhaus

Früher, sagt Rita Maiwald, war ihr Mann, ein ehemaliger Hoesch-Mitarbeiter hier mal Hausmeister. Da habe man im Defektfall noch Zettel auf jede Etage gehängt. Doch das Früher ist lange her. Hoesch gehören die Häuser schon lange nicht mehr. Genau genommen ist Rita Meiwald das letzte Relikt aus dieser Zeit: Sie war nämlich die erste Mieterin dieses Hauses.

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Damit das nicht den falschen Zungenschlag erhält: Rita Meiwald will kein Mitleid erregen. Das ist nicht ihre Intention. Wenn man den Menschen dieser Generation öfter zuhören darf, weiß man, dass sie aus anderen Hölzern geschnitzt sind. Sie haben Kriege erlebt, Hunger, Wohnungsnot. Da waren viele Widerstände, die Kinder und Jugendliche im Verlaufe ihres Lebens heute so wohl nicht mehr erleben werden – zum Glück. Und jetzt soll etwas, das man nicht sehen und greifen, nur wegimpfen kann, den Lebensabend dieser Menschen kalt durchkreuzen? Das wirkt mit Blick auf das letzte Lebensdrittel dieser vielen Menschen so unverdient und unwürdig.

Erinnerung an den Tod des Ehemannes – Rettungsdienst kam nicht so einfach ins Haus

Rita Meiwald erinnert sich in diesen Tagen des defekten Aufzuges daran, wie es vor Jahren für den Rettungsdienst nicht ohne Weiteres möglich war, ihren Mann zu erreichen, als dieser nachts dringend Hilfe benötigte. Der Fahrstuhl fuhr nicht, und die Helfer kamen nicht so einfach ins Gebäude, weil der Treppenhauseingang in einem rückwärtigen Bereich liegt. „Daran denke ich aktuell oft“, sagt Meiwald.

Beide waren sie nachts gestürzt, Rita Maiwald hatte mit einem Stock noch das Telefon zu sich ziehen können. Ihr Mann, den sie noch drei Jahre selbst gepflegt hatte, zog daraufhin in eine Pflegeeinrichtung, wo er später auch verstarb.

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Noch immer alleine zum Einkaufen – eine geliebte Routine

Man kann in einem Hochhaus dieser Art gut alt werden, wenn der Fahrstuhl funktioniert. Denn von unten vor dem Haus bis in die Wohnungen gibt es keine Barrieren. Rita Meiwald nutzt diesen Umstand für gewöhnlich. Sie fährt allein und selbstständig mit ihrem Rollator drei Stationen mit dem Bus in die Hohenlimburger Innenstadt zum Einkaufen. Der Busfahrer kennt sie längst, grüßt freundlich, ist umsichtig. Weil das jetzt alles nicht mehr geht, so sagt Rita Meiwald, habe sie in der vergangenen Woche einen Tiefpunkt gehabt. „Ich fühle mich, so muss man das ja sagen, wie gefangen im Moment“, sagt die 85-Jährige. Diese abgeschnittene Situation und die Pandemie.

Sie hat eine große Familie, die zu ihr hält. „Ich bin nicht einsam. Meine Familie ist groß. Und doch ist man trotz allem manchmal allein. Da müssen wir jetzt durch. Corona wird vorübergehen“, sagt Rita Meiwald.

Mischung vieler Kulturen war eine Bereicherung für Rita Meiwald

So ganz allein ist „Tante Rita“ auch im Haus nicht. Vor allem viele Familien mit Migrationshintergrund im Hochhaus haben bis heute nie vergessen, dass Meiwald schon in jungen Jahren keine Berührungsängste hatte und den Menschen warmherzig begegnete. Türkische Kinder machten bei ihr Schularbeiten, sie und ihr Mann halfen, wenn es irgendwo hakte. „Dass es in diesem Haus jahrelang eine Mischung vieler Kulturen gegeben hat, war eine Bereicherung“, sagt Meiwald. Zu Beschneidungen, Hochzeiten, Familienfeiern, Taufen oder Einschulungen eingeladen worden zu sein, begreift sie als große Ehre. Sie nickt dankbar, während sie davon erzählt.

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Nachbarn stellen Essen vor die Tür und kümmern sich um Rita Meiwald

Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt können ein Bumerang sein. Rita Meiwald darf das in diesen Tagen erfahren. Aus den unterschiedlich kulturell geprägten Küchen des Hauses stellen ihr die, die nicht vergessen haben, dass Rita Meiwald in jüngeren Jahren für sie da war, ganze Mittagessen, Suppen oder Gebäck vor die Tür. „Das müssen Sie sich mal vorstellen. Obwohl Corona herrscht und alle genug Probleme haben, denken die an mich“, sagt Rita Meiwald.

Hoffen auf die Zeit nach Corona und einen ruhigen Lebensabend

Sie blickt von ihrem Balkon im achten Stock. Rundherum sind einige Wohnungen frei in diesem Hochhaus, das Meiwald seit 50 Jahren ihr Zuhause nennt. Sie hofft. Auf ein Stück mehr Freiheit. Auf Busfahrten nach Hohenlimburg-Mitte. Auf eine Runde am Rollator um die Siedlung.

Auf einen Lebensabend, wie er eigentlich geplant war.