Hagen. 13 Jahre ist es her, dass Jennifer K. ihren fünf Wochen alten Sohn durch Plötzlichen Kindstod verloren hat – eine bewegende Erfahrung.
„Diese Erfahrung hat mein Leben aus der Bahn geworfen. Ich wirke nach außen häufig sehr hart, aber das ist bloß eine Schutzmauer. Ich bin sehr labil – und ein trauriger Mensch.“ Bis heute beschäftigt der Plötzliche Kindstod ihres Sohnes täglich das Seelenleben von Jennifer K.. Vor allem in einsamen Stunden beherrscht der Moment an jenem August-Morgen des Jahres 2007 ihre Gefühlswelten: „Ich habe immer wieder meine Tiefpunkte, verdränge das Erlebte, mache es mit mir selber aus und lasse es nicht so nach draußen.“ Ein dramatischer Schicksalsschlag, den die Mutter nicht akzeptieren mag.
Karges, eigenes Bett senkt die Gefahr
Kinderfachärzte sprechen vom „Plötzlichen Kindstod“, wenn ein Säugling – meist in den ersten sechs Lebensmonaten – plötzlich und ohne diagnostizierbare Ursache verstirbt. Bis heute konnte keine wissenschaftliche Untersuchung eine eindeutige Ursache für den Plötzlichen Kindstod benennen, aber „durch die aktuell geltenden Empfehlungen sind die Todesfälle in den letzten 15 Jahren um 80 Prozent zurückgegangen“, weiß Dr. Jan-Claudius Becker, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und selbst Vater von drei Kindern.
Seine dringende Empfehlung an alle Eltern: „Schlaf ausschließlich in Rückenlage, eine rauchfreie Umgebung und Stillen sind der beste Schutz vor dem Plötzlichen Kindstod.“ Denn gestillte Babys wachen nachts leichter und häufiger auf, so dass die Gefahr eines Atemstillstandes im Zusammenhang mit einer schweren Weckbarkeit bei ihnen seltener auftritt.
Schlafsack statt Kuscheltiere
Weiterhin empfiehlt der AKH-Experte: Nutzen Sie einen Schlafsack und verzichten Sie auf eine zusätzliche Decke im Babybett, damit das Kind zu jeder Zeit frei atmen und nicht unter eine Decke rutschen kann. „Im Handel erhältliche Beobachtungsgeräte wie zum Beispiel spezielle Schlafunterlagen senken aber nicht das Risiko für einen plötzlichen Säuglingstod und werden daher auch nicht empfohlen“, betont Becker weiter. „Verzichten Sie auf Kuscheltiere, Fellunterlagen, Umpolsterungen oder Kissen aller Art im Babybett. Je karger die Ausstattung, desto besser für das Kind. Schützen Sie das Kind vor Überwärmungen. Die ideale Raumtemperatur beim Schlafen liegt auch für Babys bei ca. 16 bis 18 Grad Celsius.
Zudem sollten Eltern auf die verschiedenen Anzeichen achten, „die wir im Zusammenhang mit dem Risiko eines Plötzlichen Kindstodes sehen müssen“, erklärt der erfahrene Pädiater. Dazu gehören Blau anlaufen, im Schlaf starkes Schwitzen oder auffallende Blässe, Atempausen von über 15 Sekunden, schwere Weckbarkeit, häufiges Erbrechen, Fieber ohne erkennbare Ursache, Nahrungsverweigerung oder schrilles Schreien ohne Beruhigung. „Bei diesen Anzeichen sollten Sie in jedem Fall Ihren Kinderarzt zur Rate ziehen“, betont Becker. Mit diesen Maßnahmen in Summe lasse sich das Risiko des Plötzlichen Kindstodes minimieren.
Eigenes Bett für das Kind
Aktuell sei außerdem das sogenannte „Co-Bedding“ stark in der Diskussion. Es handelt sich dabei um die Frage, ob Kinder im Bett der Eltern schlafen sollen. Der wissenschaftliche Rat von Kinderärzten lautet immer noch: Das Kind sollte in seinem eigenen Bett schlafen. Am besten stellt man ein Kinderbettchen an die Seite des Elternbetts. „Weil das Stillen sehr müde macht, besteht eine hohe Gefahr, dass sich die Mutter auf das Kind legt oder es unter die elterliche Bettdecke rutscht“, weiß Becker aus persönlicher Erfahrung. Daher sei es besser, wenn das Kind nach dem Stillen zum Schlafen in sein eigenes Bettchen gelegt werde.
Wenn die 37-Jährige angesprochen wird, wie viele Kinder sie denn habe, erzählt sie immer nur von ihren beiden Töchtern (16 und 6 Jahre alt), um bohrenden Fragen nach Tyler Maurice aus dem Weg zu gehen. Sie will sich auch nicht ständig dafür rechtfertigen, dass der kleine, erst fünf Wochen alte Säugling an dem Sommermorgen in seinem Bett lag – weiß, hart und offenkundig schon seit Stunden tot.
Säugling will nicht zunehmen
Die wenigen Lebenswochen bis zu dieser Schockerfahrung waren schon nicht einfach: Per Kaiserschnitt hatten die Ärzte den Kleinen zur Welt geholt. Mit der Versicherung, dass alles in Ordnung sei, konnte die junge Mutter ihr damals schon zweites Kind nach zwei Tagen mit nach Hause nehmen. Doch Tyler Maurice wurde immer dünner, wollte nicht zunehmen. „Regelmäßig war ich beim Kinderarzt, habe Protokoll geführt, wie oft er die Flasche bekommen hat. Erst als er vier Wochen alt war, hat er super zugenommen. Daraufhin haben wir die Taufe geplant und hatten auch schon für die Gäste eingekauft.“ Doch aus dem christlichen Freudenfest wurde eine Trauerfeier.
„Schon am Vortag war Tyler Maurice sehr knatschig. Er wollte nur zu mir auf den Arm und lehnte abends sogar den Schnuller ab, als ich ihn gegen 22 Uhr ins Bett legte“, erinnert sich Jennifer K.. Lange hielt er ihren Finger fest, bis er schließlich dann doch einschlief. Wenig später legte sich auch die junge Mutter hin und stellte sich auch keinen Wecker. Der Kleine forderte erfahrungsgemäß ohnehin gegen 5 Uhr seine erste Mahlzeit ein. Doch als sie am nächsten Morgen erwachte, war es bereits 7 Uhr – und das Baby tot.
Totes Kind wird beschlagnahmt
Die nächsten Stunden wurden für Jennifer K. zum Albtraum: „Ich habe geschrien. Polizei, Notarzt, Seelsorger und Feuerwehr – alle standen plötzlich in meiner Wohnung. Ich durfte nicht mehr zu meinen Kind.“ Bis zum Abschluss der Obduktion gab es keinen Kontakt mehr zu dem leblosen Jungen. „Ich musste mir sagen lassen, dass mein Kind beschlagnahmt sei. Ich hatte gar nichts gemacht. Ich stand da alleine und hilflos – das war furchtbar.“
Zwar gab es die Zusage der Polizei, sie dürfte nach der Leichenschau noch einmal zu ihrem Kind, um ihm für die Trauerfeier seine Taufsachen anzuziehen. Doch auch aus diesem Abschied wurde nichts. Stattdessen hieß es: „Nein, Sie können ihn nicht mehr sehen, weil er so schlimm aussieht. Ich durfte nur noch mal unter die Decke fassen, als er im Sarg lag, mehr aber auch nicht.“
Bis heute Panikattacken
Emotional tat sich vor Jennifer K. ein Schwarzes Loch auf, ihre Trauer konnte sie kaum bewältigen. Nicht nur ihre Ehe ging in die Brüche, auch der Alltag wurde zu ihrem Feind. Während sich die Großmutter um die damals dreijährige Tochter kümmerte, suchte sich die damals 24-Jährige therapeutische Hilfe: „Ich war überhaupt nicht mehr ich selbst. Wenn ich Leute mit Kinderwagen sah, bin ich halb zusammengebrochen.“ Bis heute begleiten sie Panikattacken und eine beengende Angst vor dem Tod. „Es gibt Tage, an denen ich zu Hause sitze und in ein Loch falle.“ Hinzu kommen Selbstvorwürfe, damals keine zweite ärztliche Meinung eingeholt zu haben: „Ich glaube nicht an die Diagnose Plötzlicher Kindstod. Da ist schon im Vorfeld so viel schief gelaufen – das war alles nicht normal.“
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Jennifer K. lernt eine neue Liebe kennen. „Er hat mich aufgefangen, unterstützt und aus dem Loch rausgeholt. Sie will wieder schwanger werden. „Um eine neue Aufgabe zu haben, nicht um ein Kind zu ersetzen.“ Doch es funktioniert nicht mehr. Es folgt eine Fehlgeburt. Erst 2014 bringt sie eine gesunde Tochter zur Welt. Aufgrund der Vorgeschichte übernimmt die Überwachung des Babys im Kinderbett zunächst eine Maschine. Und auch heute fühlt die 37-Jährige noch die Atmung der inzwischen Sechsjährigen, wenn sie mal im Elternbett schläft.
Bilder der Erinnerung
Neben der Erinnerung ist ihr bloß noch der Schlafanzug von Tyler Maurice geblieben, der in ihrem Schrank hängt. Hinzu kommen Fotos und Videosequenzen. Sogar die Bilder der Obduktion und von der Auffindesituation hat sie sich damals von der Kripo besorgt – „die gucke ich mir aber nicht mehr an“, hat sie sich damals an alles geklammert, was noch zu greifen war. „Am schwierigsten ist bis heute der Gedanke: Wie würde er inzwischen wohl aussehen? Das reizt mich unheimlich . . .“