Hagen. Karin Sell leidet an unruhigen Beinen. Sie kann nicht still sitzen, nicht ohne starke Medikamente. Die Krankheit zwingt zu permanenter Bewegung.

Wie einen Tiger im Käfig, so muss man sich Karin Sell vorstellen, wenn sie nachts aus dem Bett aufspringt und anfängt zu laufen. Sie muss laufen, laufen. Vom Schlafzimmer zur Küche, von der Küche ins Bad, vom Bad ins Schlafzimmer und wieder von vorn. Laufen, laufen. Ihre Beine zwingen sie dazu. Das Kribbeln lässt ein wenig nach, wenn sie läuft, der Schmerz ebbt ab. Ganz verschwunden sind sie nie, das Kribbeln und der Schmerz, aber halbwegs erträglich. Wenn sie still sitzt oder liegt, werden sie unerträglich.

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Karin Sell (73) aus Dahl hat „Unruhige Beine“. So nennt der Volksmund das Restless Legs Syndrom (RLS), eine unheimliche, noch wenig erforschte Nervenkrankheit, die die Betroffenen zu permanenter Bewegung der Beine nötigt. Die genaue Ursache ist unbekannt, die Wissenschaft vermutet, dass das Gehirn zu wenig Dopamin (ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems) ausschüttet und die Gliedmaßen deshalb kein Ruhesignal erhalten. „Man kann RLS nicht messen wie eine Polyneuropathie“, sagt Karin Sell: „Man kann die Krankheit überhaupt nicht nachweisen. Man kann sie nur anhand bestimmter Symptome diagnostizieren.“

Verharmlosende Bezeichnung

Weil RLS so selten ist und weil die Bezeichnung „Unruhige Beine“ verharmlosend klingt und auf einen eher zimperlichen Charakter schließen lässt, werden die Patienten selbst von manchen Fachärzten nicht ernst genommen. In der Selbsthilfegruppe, die Karin Sell in Hagen und Gevelsberg leitet, berichten Betroffene davon, dass sie ausgelacht wurden oder mit der Bemerkung, sie sollten sich doch nicht so anstellen, ein bisschen durch die Wohnung zu laufen, sei doch nicht so schlimm, abqualifiziert wurden. „Ich selbst antworte auf solche Sätze immer: Ich wünsche Ihnen eine Woche RLS, dann werden Sie nie wieder darüber lachen.“

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Denn RLS kann einen Menschen physisch und psychisch zum Wrack machen. Dass Karin Sell keines geworden ist, obwohl sie seit 1993 unruhige Beine hat, liegt an dem beständigen Kampf, den sie der Krankheit liefert. Die Symptome haben sich mit den Jahren verschlimmert, dem ständigen Bewegungsdrang, dem Ziehen, Stechen oder Brennen begegnet sie mit immer anderen Medikamenten.

Neu entwickeltes Opiat

Ein Professor der Uni Marburg hat sie gefragt, ob sie ein neu entwickeltes Opiat ausprobieren möchte: „Und ich habe gedacht, ich habe ja keine andere Chance. Schlimmer kann es ja nicht werden.“ Derzeit kann sie ganz gut damit leben, das Arzneimittel lindert die Symptome. Die Nebenwirkung: Karin Sell ist oft müde, schläft im Bus oder im Wartezimmer ein.

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Sie kann nicht still sitzen ohne Medikamente, der Bewegungsdrang ist unwiderstehlich. Sie ist dazu verdammt, aufzustehen und umherzulaufen. Sie hat ihren Job als Sekretärin in einem evangelischen Gemeindebüro vorzeitig aufgeben müssen, weil sie abends bei Sitzungen nicht mehr in der Lage war, Protokolle zu schreiben. Ihre Beine bewegen sich im Schlaf, sie muss laufen, aber sie kann nicht weglaufen. Die Krankheit holte sie ein, selbst wenn sie in die Südsee flöge.

In psychiatrischer Behandlung

Ja, sagt sie, es höre sich vielleicht albern an für jemanden, der diese Krankheit nicht kenne, dass man nicht still halten könne. Und dass sie selbst, als sie erstmals mit der Krankheit konfrontiert wurde, nichts damit habe anfangen können: Unruhige Beine, ja und? Aber dass sie dann sieben Jahre am Stück nicht eine Nacht durchschlafen konnte. Dass man kein fröhlicher, ausgeglichener Mensch sein kann, wenn man nicht mehr schläft. Dass sie depressiv geworden und in psychiatrischer Behandlung ist. Dass man sich mit unruhigen Beinen besser fühlt, wenn man Sport treibt, ist ja irgendwie logisch, aber wenn man sich nach dem Sport ausruhen will, kommt das böse Erwachen.

Selbsthilfegruppe

Die Selbsthilfegruppe Unruhige Beine (RLS) in Hagen ist für Betroffene, Angehörige und Interessierte offen und trifft sich an jedem zweiten Mittwoch von 16 bis 17.30 Uhr in der Begegnungsstätte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Bahnhofstr. 41.

Kontaktaufnahme möglich über die E-Mail-Adresse:
ktobies@gmx.de

Man kann sich nicht ausruhen, die Beine lassen einem keine Ruhe. Nie. Nie mehr hat man Ruhe.