Hagen. Passt Ovid in die digitale Gegenwart? Das Hagener Lutz zeigt die Metamorphosen als Computerspiel

Der vergessene Musikraum einer Schule wird zur digitalen Arena. Hier treffen sich Sam, Nele und Luis, um in einem neuen Computerspiel den Minotaurus zu bekämpfen. Dafür müssen sie durch ein Labyrinth, das schafft alleine keiner. Mit TransformMates übersetzt Anja Schöne am Lutz des Theaters Hagen Ovids Metamorphosen in ein zeitgemäßes Bühnenabenteuer voller Grenzgänge zwischen analoger und erträumter Realität. Dass die Gesichtsschilde der Darsteller coronabedingt sind und nicht zur futuristischen Rüstung der Gamer gehören, wird kein Besucher vermuten.

Ein Labyrinth aus Traversen

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Die kongeniale Bühne von Jeremias H. Vondrlik besteht aus versetzbaren Traversen, welche zusammen mit Videoprojektionen eine hypertechnische Umgebung suggerieren, wie man sie in einem Computerspiel erwarten würde, in dem die Avatare der Protagonisten als Krieger, Heilerin und Magisches Wesen auftreten. Doch die Fachwerkträger können mehr: Sie visualisieren das Labyrinth des Minotaurus, aus dem Ikarus flieht, und sie stehen sinnbildlich für die Mauern, gegen welche die 13-jährigen Helden in ihrem Alltag anrennen.

Sam, Luis und Nele sind unauffällige Einzelgänger. Und doch haben sie jeder ein Geheimnis. Nele mit dem neongelben Fransenrock weiß, wer der Minotaurus ist und bringt die Gefährten mit anderen Sagengestalten Ovids in Kontakt, zum Beispiel Io, die von Zeus in eine Kuh verwandelt wird, welche die eifersüchtige Hera von dem hundertäugigen Argos bewachen lässt. Mindestens 100 Augen hat auch Neles überaufmerksame Mutter. Oder Phaeton, der Sohn des Sonnengottes Sol, der das Zeugnis von dessen Vaterschaft einfordert. Oder Iphis, die als Mädchen auf die Welt kommt und in einen Jungen verwandelt wird.

Generationenkonflikte

„In vielen Verwandlungsgeschichten Ovids geht es um Generationenkonflikte, das ist natürlich auch ein Thema für unsere jungen Zuschauer“, begründet Lutz-Leiterin und TransformMates-Regisseurin Anja Schöne, warum sie die Metamorphosen in ein zeitgenössisches Theaterstück transformiert hat. „Mir ist es auch ein Anliegen, dass diese klassischen Stoffe in ihrem literarischen Gehalt erhalten bleiben.“ Daher kombiniert Anja Schöne die Alltagssprache normaler Jugendlicher mit Ovids Versen, und das geht im Kontext der wechselnden Realitäts-Ebenen erstaunlich gut auf. Der Komponist Tobias Hagedorn hat dazu elektronische Musik geschrieben, die von Joysticks in Gang gesetzt wird und eine tiefe Erzählebene hinzufügt.

Der erste Schritt zum Fliegen

„Nele ist mir nie besonders aufgefallen, weil sie so eine Art hat, sich unsichtbar zu machen“, verrät Sam den Beginn des Kontakts. Nele redet mit einer Feder, die sie im Haar trägt: „Wenn Du mal wegfliegen willst, ist das zumindest ein Anfang:“ Ikarus schafft es, an Flügel zu kommen. Doch er wird von seinem Vater gewarnt: Flieg nicht zu hoch, sonst verbrennt dich die Sonne, flieg nicht zu tief, sonst machen die Wellen dich nass und schwer. Flieg in der Mitte. Genau dieser Mitte, dem Mittelmaß, möchten die drei entkommen, und um das zu schaffen, müssen sie sich verwandeln.

„Es ist ein Glück, dass wir ausgerechnet diese Produktion machen“, berichtet Anja Schöne vom Inszenieren in Coronazeiten. „Wir haben alles gestrichen, wo sich die Darsteller vorher berührt haben, die Choreographien mussten geändert werden, und die Ebene mit der Kamera ist dazugekommen.“

Am Ende Freunde

Micha Baum. Tatiana Feldman und Anne Schröder müssen viel mehr können als spielen und sprechen. Das Stück verlangt großen sportlichen und tänzerischen Einsatz. Das Team schafft es dabei außerordentlich intensiv und berührend, immer wieder die Ebenen zu wechseln: von der unerschrockenen Avatar-Existenz zur zweifelnden und unsicheren Teenager-Gegenwart und zurück.

Am Ende machen die drei eine Metamorphose durch, die sie zunächst gar nicht bemerken und die ihnen Angst macht: Sie werden Freunde.