Hagen. Harfe ganz anders und ganz wunderbar. Andreas Mildner spielt im Sinfoniekonzert in Hagen unter besonderen Umständen

Frenetischer Beifall, sobald die Hagener Philharmoniker die Bühne betreten. Noch ist kein Ton erklungen, doch das Publikum würdigt bereits von Herzen, dass sie überhaupt da sind, die Musiker. Nur 800 Karten durften für das Sinfoniekonzert in der Stadthalle verkauft werden. Hagen ist die Stadt, deren Bürger 1945 mitten in den Trümmern des Zweiten Weltkrieges zuerst ihr zerstörtes Theater wieder in Gang gebracht haben. Einlass gab es damals gegen Kohlen. Die Stadtgesellschaft fror lieber daheim, als auf Beethoven zu verzichten. Denn was den Menschen als Menschen ausmacht, das vermitteln in Krisenzeiten Kirchen und Kultur.

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Doch Corona erschüttert selbst diese Gewissheit. Gottesdienste und Konzerte sind jetzt Orte potenzieller Ansteckung, nicht mehr der ethischen Seinsvergewisserung. Die notorischen Konzerthuster werden heutzutage nicht belächelt, sondern argwöhnisch beäugt. Von solchen Hintergedanken ist allerdings nichts mehr zu spüren, als Andreas Mildner die Bühne betritt. Der beste deutsche Harfenist hat ein Werk mitgebracht, dass vom Publikum aktives Mithören verlangt.

Töne als Farben sehen

Die finnische Komponistin Kaija Saariaho (67) ist Synästhetin, sie sieht Töne als Farben. In dem Harfenkonzert „Trans“ versucht sie, das Polarlicht abzubilden. So entstehen ergreifend ungewöhnliche Hörbereiche; das Orchester verlängert die Harfenklänge organisch und wandelt sie in Farbfächer und Klangballungen um; der zweite Satz beginnt mit einem unheimlichen Akkord aus Bassposaune und Schlagwerk. Man muss sich in das Stück einstimmen, dann entfaltet es eine unwiderstehliche Sogkraft.

Andreas Mildner war bis zum vergangenen Sommer Soloharfenist des WDR-Sinfonieorchesters, er wurde schon mit 31 Jahren Professor in Würzburg, und dem Publikum in der Region ist er durch seine Konzerte mit dem Tubisten Andreas Martin Hofmeir beim Festival Sauerland-Herbst bekannt.

In Hagen begeistert er mit seinem überragenden Spiel, das der Harfe unerhörte Klangmöglichkeiten entlockt, das so diszipliniert ist und gleichzeitig berückend frei im künstlerischen Ausdruck – und das die Kunst des Leisen bis an die Hörgrenze treibt.

Türenknallen als Kontrapunkt

Das Publikum würdigt den außergewöhnlichen Solisten mit sehr langem Beifall, und Andreas Mildner spielt als Zugabe Benjamin Brittens „Hymn“, einer Variation über das walisische Volkslied Saint Denio. Orchestriert wird das Ausnahme-Erlebnis vom beständigen lauten Türenknallen, Rufen und Streiten aus dem Foyer und dem Backstage-Bereich der Stadthalle.

Generalmusikdirektor Joseph Trafton hat um das Harfenkonzert ein nordisches Programm gestaltet, mit Griegs „Peer Gynt-Suite und der 2. Sinfonie von Jean Sibelius. Dabei greift Trafton mit dem wunderbaren Orchester das Konzept der Farbzauberei auf. Flöten und Oboen beschwören beim Grieg die Morgenstimmung mit ihren Lerchentrillern, „Ases Tod“ wird mit feinem Puls zum Trauergesang, und der Bergkönig stampft in den Fagotten durch seine Halle. Trafton arbeitet hier intensiv mit dynamischen Abstufungen, lässt das Orchester ganz unangestrengt leise und immer noch leiser spielen. Damit verwandelt sich dynamische Flächenarchitektur in musikalische Bewegungsenergie.

Erlösung mit doppeltem Boden

Diese Kunst setzt der Generalmusikdirektor auch in der „Zweiten“ von Sibelius ein. Daraus entstehen spannende Hörmomente, beispielsweise im zweiten Satz mit den gezupften Streichbässen zum Beginn. Trafton lässt sich Zeit bei dieser weit gespannten Einleitung, so dass es schließlich zu einer kleinen Sensation wird, wenn sich das Lied der Fagotte über das Bass-Pizzikato schiebt.

Das Erlösungskonzept des Finales erhält mit dieser Lesart einen doppelten Boden. Denn unmittelbar neben dem Jauchzen steht das Erschauern. Über dem Orchester aber schwebt ein Leuchten, das aus der sorgfältigen Arbeit am Klang resultiert.

Das Publikum bedankt sich leidenschaftlich. Das nächste Sinfoniekonzert steht am 28. April an. Bis dahin ist es nicht selbstverständlich, das Grundnahrungsmittel Musik live zu konsumieren. Doch was gefährdet ist, dessen Wert wird bewusst, das wissen auch die Musikfreunde der Region.