Hagen. Eine Bühne in Schwarz-Weiß, gute Sänger, und das Ballett vertanzt das Unsagbare: So ist Glucks Orpheus und Eurydike in Hagen
Mit Orpheus betritt der singende Mensch die Bühne. So groß ist seine Trauer! Man glaubt ihm, dass die Sprechstimme alleine nicht ausreicht, um ihr Ausdruck zu verleihen. Am Theater Hagen macht die hochbegabte junge Mezzosopranistin Anna-Doris Capitelli jetzt Glucks „Orpheus und Eurydike“ zu einem Opernabend voller Glücksmomente und berührender Erkenntnisse. Zusammen mit einem großartigen Ensemble und Bildern voller Macht und Poesie entsteht eine berührende Inszenierung über Trauer, Tod und Loslassen. Das Publikum feiert sie mit lang anhaltendem Beifall im Stehen.
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Der Sänger an und für sich hat ein Legitimationsproblem. Denn es ist ja nicht normal, dass er sein Schicksal in Tönen ausdrückt. So haben es jedenfalls die Gründerväter des Musiktheaters empfunden. Orpheus ist die erste Figur, der man den Gesang auf der Bühne zutraut, schafft er es doch sogar, die Wächter der Unterwelt zu besänftigen. Die erste Oper der Musikgeschichte ist ihm gewidmet. Bis heute fasziniert Komponisten sein Schicksal. Orpheus ist der Schutzpatron aller singenden Menschen. Auch Gluck nimmt sich den Orpheus-Mythos vor, um die Oper zu reformieren, um ihr mehr Gefühlstiefe zu verleihen. Hat je Musik wahrhaftiger geklungen als die Klagearie „Ach, ich habe sie verloren“?
Das Elysium kommt aus dem Bühnenhimmel
In der Hagener Inszenierung von Kerstin Steeb und Bühnenbildnerin Lorena Diaz Stephens erhält der Begriff Fluchtpunkt eine neue Bedeutung. Die Bühne ist langer leerer Kasten, der das Auge perspektivisch auf ein helles Viereck zuführt. In dieses Licht flüchtet Eurydike – freiwillig. Orpheus kann das nicht akzeptieren. Für ihn wird der durch Lamellen begrenzte Raum zum Gefängnis, aus dem er durch seine Suche ausbrechen möchte. Das Elysium senkt sich schließlich spektakulär aus dem Bühnenhimmel herab - als Gitter aus Stahlträgern, ein Labyrinth, aus dem es keinen gemeinsamen Ausweg für die Liebenden gibt.
Die Schönheit dieser reduzierten Schwarz-Weiß-Bilder ist überwältigend. In ihnen gewinnt die spätbarocke Musik ein Schwingen und Schweben, das Glucks Töne sprachmächtig werden lässt. Steffen Müller-Gabriel leitet das Orchester auf dem halb hochgefahrenen Graben ohne Stab, wie es in der Originalklangbewegung üblich ist. Die Philharmoniker spielen mit flexiblem, federndem Puls; Die Streicher setzen wenig Vibrato ein, das verleiht dem Satz wunderbare Transparenz. Es gibt spannende Klänge zu entdecken: die Echo-Wirkungen in Orpheus’ Trauerklage, den Volkstanz in Oboe und Fagott bei Amors Auftrittsarie, die Ombra-Szenen in der Begegnung mit den Furien, wo der Höllenhund in den Kontrabässen heult und dann die blendende Helligkeit der Flöten, wenn Orpheus das Elysium betreten darf.
Virtuos vertanzte Alpträume
Regisseurin Kerstin Steeb ist auch Bewegungswissenschaftlerin, das zahlt sich bei der Personenführung des Chores aus. Das Hagener Ballett kommt dort zum Einsatz, wo selbst der Gesang versagen mag. Denn die Furien-Szenen sind virtuos vertanzte Alpträume aus Angst und Abhängigkeit. Die Verbindung von Barockoper mit Ballett ist ausgesprochen sinnvoll, weil diese Musik so gestisch ist. Sie soll zu einem neuen Alleinstellungsmerkmal des Theaters Hagen werden.
Amor trägt einen rosa Flauschpullover und sitzt mitten im Parkett. Immer, wenn Orpheus’ Trauer unerträglich wird, greift Sopranistin Cristina Piccardi ein. Der „Deus ex Machina“ der Barockoper, also der Gott, der aus der Bühnenmaschinerie plötzlich auftaucht, wird zum allwissenden Publikum, das über die Handlung bestimmen darf. Angela Davis singt die Eurydike mit tragfähigem, farbenreichem Sopran. Und Anna-Doris Capitelli ist mit einem ungewöhnlich schön timbrierten, gut geführten Mezzosopran gesegnet, mit dem sie ihren Orpheus zum Herzensbruder aller Trauernden macht. Die Sängerin hat vor drei Jahren in Hagen in der Kinderoper „Gold“ ein junges Publikum begeistert und wurde direkt vom Theater Hagen für ein Stipendium an der Opernakademie der Mailänder Scala ausgewählt. Die Wärme, die Koloratursicherheit und die Fähigkeit ihrer Stimme, Farben und Gefühle auszudrücken, verraten eine außergewöhnliche Begabung.
Amor im rosa Flauschpullover
Orpheus darf sich ja nicht umdrehen, wenn er Eurydike aus der Unterwelt führt. Das klappt bekanntlich in der Sage nicht. In der Oper soll Amor doch noch ein glückliches Ende herbeiführen. Doch Regisseurin Kerstin Steeb verweigert sich dieser Lesart. Eurydike geht zurück zu den Furien. Nicht die Toten befinden sich in der Hölle, sondern die Hinterbliebenen.
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