Hagen. Hagens letzter Holocaust-Überlebender, Herbert Shenkman, ist in Berlin gestorben. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir ein Interview aus 2012.
Der wohl letzte Holocaust-Überlebende, der in Hagen aufgewachsen ist, Herbert Shenkman, ist am 15. Dezember in seinem Wohnort Berlin verstorben. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir noch einmal ein Interview, dass die WP 2012 mit dem damals 88-Jährigen geführt hat.
In Hagen hat sich ein Bündnis gegen Rechts formiert. Sorgt Sie der Rechtsradikalismus in Deutschland?
Shenkman: Die Ratten, die sich nach 1945 plötzlich alle verkrochen hatten, kommen jetzt wieder hervor - mit all ihren Ideologien und ihrem Hass. Aber ich glaube und hoffe, dass es nicht mehr so sein kann, wie es einst gewesen ist.
Rückblickend: Wie beurteilen Sie die Rolle der Deutschen zu Zeiten der Nazi-Diktatur?
Es ist falsch zu sagen: Damals, das waren „die“ Deutschen. Wenn es alle Deutschen gewesen wären, dann wäre ich heute nicht hier. Es war ein Teil. Vor 1933 habe ich mich ja selbst als Deutscher gefühlt. Die grausamen Morde der Nationalsozialisten waren etwas, das Deutsche Deutschen angetan haben.
Wann ist Ihnen zum ersten Mal klar geworden, dass Sie in den Augen der Nationalsozialisten anders waren als andere?
Das war noch bevor die Nazis endgültig an die Macht kamen. Ich besuchte einen christlichen Kindergarten. Beim Krippenspiel durfte ich nicht mitmachen.
Nach der Machtergreifung haben Sie die jetzige Luise-Rehling-Realschule in Altenhagen besucht. Wie haben Sie die Schulzeit empfunden?
Die Schule durfte ich überhaupt nur besuchen, weil mein Vater für Deutschland im Ersten Weltkrieg verwundet wurde. Von 1000 Schülern waren nur zwei Juden. Ich war einer davon. Jeden Morgen wurde auf dem Hof die Hakenkreuzfahne gehisst und mit erhobenem Arm gegrüßt. Mein Arm blieb unten. Daraufhin wurde ich von meinem Klassenlehrern von der obligatorischen Anwesenheit befreit.
Hatte Ihre Religionszugehörigkeit Auswirkungen im Unterricht?
Eine Deutschlehrerin, die eine gehobene Stellung in NS- Frauenbewegung hatte, hat mir erklärt, dass ich im Aufsatz eigentlich ein „sehr gut“ verdient hatte. Die Note hat sie mir aber nicht geben. Es konnte doch nicht angehen, dass ein Jude besser in der Schule ist als ein Mitglied der Hitlerjugend. Am Ende bekam ich eine Zwei.
Was hat sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten für Sie und ihre Familie geändert?
Aus Freunden wurden auf einmal Feinde. Meine Mutter arbeitete im Rathaus. Sie wurde entlassen. Die ersten von ungefähr 1000 Judengesetze traten in Kraft. So durften wir nur noch nach 16 Uhr einkaufen. Zu einer Zeit, als alle guten Lebensmittel längst vergriffen waren. Es machte sich ein Gefühl der Ausgeschlossenheit breit. Ich fühlte mich ausgeschlossen von allem. Kurzfristig gelockert wurden die Gesetze zu den Olympischen Spielen 1936. Auch in Hagen verschwanden die Hass-Artikel, die öffentlich ausgehängt worden waren. 1938 wurde ich dann vorzeitig aus der Schule entlassen. Als Jude durfte ich sie nicht mehr besuchen. In Haspe war ein Transparent über der Straße gespannt: „Juden sind unser Unglück“, stand darauf. Ich musste den Judenstern tragen. In der Straßenbahn habe ich versucht, ihn zu verbergen. Ich habe mich geschämt, fühlte mich als Mensch demoralisiert und erniedrigt.
Wo und wie haben Sie die Pogromnacht erlebt?
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In einer Pension in Köln. Dort begann ich nach der Schule eine sogenannte Vorlehre als Schlosser. Eine richtige Lehre durften Juden nicht absolvieren. Meine Mutter war an jenem Tag zu mir gekommen und hatte mich davor gewarnt, nach Hagen zurückzukehren. Mein Onkel, der eine Zahnarztpraxis in Priorei hatte, war geflohen, als die Gestapo an seine Tür klopfte. Meine Mutter glaubte, dass sie es nun auf mich abgesehen hätten. Meine Mitbewohner sind in die englische Gesandtschaft geflüchtet. Dort hatten sie Juden Unterschlupf gewährt. Ich bin als einziger zurückgeblieben.
Hatten Sie zu dieser Zeit die Möglichkeit, aus Deutschland fortzugehen?
Ja, die gab es. Schon lange vor der Deportation. Ich hätte frühzeitig in die USA oder nach Holland auswandern können. Aber meine Großmutter hat gesagt: Was soll der Junge so weit weg? In sechs Monaten hat sich das mit dem Hitler erledigt.
Gab es in der Zeit in Hagen Menschen, die jüdische Familien unterstützt haben?
Ja, die hat es gegeben. Eine Verkäuferin in einem Geschäft hat für uns extra Lebensmittel zurückgelegt. Ein Arzt, Dr. Ritter, hat mir die Mandeln herausgenommen, ob-wohl das gar nicht nötig war. Dann hat er mich krank geschrieben. Das klingt absurd: Aber das hat mich im November 1941 vor dem Abtransport gerettet. Kranke wurden nicht deportiert . . . Im Februar 1942 hat mich mein Chef, der Delsterner Bauunternehmer Reiß, vor der Deportation bewahren können. Er hat den Nazis erklärt, ich sei unabkömmlich.
Im Juli 1942 gab es keine Rettung mehr. Wie haben Sie von der bevorstehenden Deportation erfahren?
Zu der Zeit waren wir im „Judenhaus“ an der Potthofstraße einquartiert. Das stand in etwa dort, wo heute das „Haus für Kinder“ ist. Unser Mobiliar war beschlagnahmt worden. Im „Judenhaus“ konnten Juden besser überwacht werden. Ungefähr einen Monat vor der Abfahrt wurde die Deportation durch einen Brief bekanntgegeben. Es wurde mitgeteilt, dass es nach Theresienstadt gehen sollte. Es wurde versprochen, dass die Alten gut versorgt würden. Von einem Kurort war die Rede, in den sich Senioren einkaufen könnten. Heute muss ich sagen: So schlecht es in Theresienstadt auch war, es war immer noch besser als in vielen anderen Lagern.
Wie ist die Deportation abgelaufen?
Die Potthofstraße ist an diesem Tag eigens gesperrt worden. Ich bin trotzdem noch in Richtung Markt. Dort habe ich einen Bekannten getroffen, der nur meinte, dass wir doch in sechs Wochen alle wieder da seien. Was wirklich auf uns zukam, haben wir nicht gewusst. Uns war nicht einmal klar, wo Theresienstadt überhaupt liegt. Bevor wir deportiert wurden, mussten wir unterschreiben, dass wir aufgrund kommunistischer Umtriebe auf unser Vermögen verzichten. Das war legalisierter Raub.
Was hat die Deportation für Sie bedeutet?
Das war der Abschluss des gewöhnlichen Lebens. Der Abschluss meiner Jugend. In Theresienstadt haben wir uns mit 120 Menschen acht Toiletten und eine Wasserpumpe geteilt. Alles war verseucht mit Flöhen und Wanzen. Im Dezember 1942 gab es 125 Tote und keine Geburten. Wenn es zu voll wurde, rollten die Züge mit Alten direkt ins Vernichtungslager. Von alle den Versprechungen erfüllte sich nichts.
Wie sah Ihr Alltag in Theresienstadt aus?
Ich habe zunächst als Schlosser, später als Bäcker und als Koch gearbeitet. Ich hatte Glück, bis zum Herbst 1944 in Theresienstadt zu sein. Sonst hätte ich wohl nicht überlebt.
Was hat dazu geführt, dass Sie nach Auschwitz gebracht wurden?
Die Stadt war übervölkert. Ständig gingen Transporte in Richtung Osten. Die Angst davor war allgegenwärtig. Aber keiner hatte jemals etwas von Auschwitz und dem Massenmord gehört. Aber man hatte ein Ahnung davon, dass das, was immer auch kommen mochte, schlechter sein müsse als der Ist-Zustand. Meine Mutter arbeitete im Büro des Lagers. Mehrfach gelang es ihr, meine Namenskarte zu entfernen und mich vor dem Abtransport zu bewahren. 1944 war das durch die strenge Aufsicht der SS nicht mehr möglich. In der zweiten Jahreshälfte wuchs die Angst vor einem Aufstand der Jungen im Lager. Innerhalb kürzester Zeit gingen vier Transporte in Richtung Osten. Ich wurde in einen Viehwaggon gepfercht und deportiert.
Welche Erinnerungen haben Sie an den Transport?
Wir versuchten zunächst zu enträtseln, wohin wir gebracht werden sollten. Uriniert wurde in Konservenbüchsen, die durch die Luftspalte entleert wurden. Als der Zug hielt, sahen ich durch einen Schlitz die lodernden Flammen aus den Schornsteinen. Ich hielt das zunächst für ein Zeichen, damit die Anlagen nicht bombardiert würden. Später wurde klar: Es waren die vier Krematorien, in denen die Leichen permanent verbrannt wurden.
War Ihnen klar, wo Sie sich befanden?
Der Name der Bahnstation, Auschwitz, sagte uns nichts. Aber es war schnell klar, dass es sich um einen furchtbaren Ort handelte. An einem Stacheldraht standen Frauen und schrien verzweifelt nach Brot.
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an die Ankunft in Auschwitz denken?
Wir wurden selektiert und dann geschoren wie die Schafe. Danach wurden wir von der SS in einen Duschraum getrieben. Stundenlang mussten wir draußen stehen, bekleidet nur mit Unterwäsche, die aus Gebetsschals selbst hergerichtet wurde. Es war eiskalt. Anschließend wurden wir in eine Baracke gepfercht. Es war so eng, dass man nicht liegen konnte. Nachts hockten wir nebeneinander.
Wussten Sie von den Gaskammern?
Sogenannte „Bonkes“ – Gerüchte – machten die Runde. Wir hörten zum ersten Mal von Folterungen, Massenvergasungen und Experimenten. Ich sah, wie Kinder in die Gaskammer gebracht wurden. Es roch dauernd nach verbranntem Fleisch. Wir hörten die Schreie der Frauen in der Nacht. Ein Gefühl der Ohnmacht kam damals in mir auf. Und der Hass, der Hass auf alles Deutsche.
Wie haben Sie es geschafft, der Hölle von Auschwitz zu entkommen?
Eines Tages wurden in Auschwitz Freiwillige gesucht, die bereit waren, in einer Fabrik zu arbeiten. Ich habe mich als Facharbeiter gemeldet, habe angegeben, Dinge zu können, die ich gar nicht beherrschte – nur, um herauszukommen. Wer sich freiwillig meldete, lief immer Gefahr, direkt in der Gaskammer zu landen. Aber in dem Moment dachte ich: Alles ist besser, als hier zu verrecken. Die Nazis brauchten tatsächlich Fabrikarbeiter. So bin ich nach Meuselwitz gekommen und habe in der Fabrik Hasag als Dreher gearbeitet.
Wie haben Sie die letzten Kriegstage erlebt?
Im April 1945 wurde das Lager aufgelöst. Wir wurden in einem Zug abtransportiert. Etwas später habe ich eine Gelegenheit zur Flucht genutzt. Ein Wachmann hat auf mich geschossen. Ich bin zusammengesackt. Die Kugel steckte zwischen Herz und Lunge. Tschechische Zivilisten haben mich versorgt. Plötzlich stand ein deutscher Offizier über mir. Er hat mich gefragt: „Willst du leben?“ Ich habe genickt. Und so hat er angeordnet, mich in ein Lazarett zu bringen. Das war im Mai 1945. Seither habe ich einen zweiten Geburtstag.
Haben Sie nach dem Krieg Hagen besucht?
Ja. Es war ein eigenartiges Gefühl. Mit den Hagenern habe ich kaum gesprochen. Die Nazis waren ja alle nicht mehr da. Die müssen wohl auf dem Mars gewesen sein . . . Unser Silber hatten wir bei Freunden deponiert. Ich habe alles zurückbekommen.
Wie haben Sie ihre Erlebnisse verarbeitet?
Ich habe vieles aufgeschrieben. Im Nachhinein hat sich das seltsam gelesen. So, als hätte ich all das nicht selbst erlebt, als hätte ich über einen Dritten geschrieben. Es hat lange gedauert, sich an die Freiheit zu gewöhnen.
Inwiefern beschäftigt Sie Ihre Vergangenheit noch heute?
Nun – ich halte ja Vorträge an Schulen, Universitäten und in öffentlichen Einrichtungen. Manchmal stelle ich mir die Frage, wie ich mich wohl verhalten hätte, wenn ich auf der anderen Seite gestanden hätte. Dass es Lager gab, wussten alle. Aber wer offen opponiert hat, lief Gefahr, am nächsten Tag in einem zu landen. Die Gleichgültigkeit der Menschen – das war für mich das Schlimmste.
Glauben Sie an Gott?
Ich beneide jeden, der einen tiefen Glauben hat. Ich wünschte, ich hätte ihn auch. Gott ist ein Wort, das man benutzt für etwas, von dem keiner weiß, ob es existiert. Das Unmenschliche ist den Juden von Menschen angetan worden, nicht von Gott. Nach einem Bombenangriff mussten wir in einem Waldstück bei Meuselwitz die Leichen von weiblichen Gefangenen einsammeln. Wir haben Arme, Beine, Köpfe und Körper geborgen und auf Lastwagen gelegt. Ob die Teile zueinander passten, spielte keine Rolle. Hauptsache, in der Statistik stimmte am Ende die Anzahl der Leichen mit der der Gefangenen überein. An diesem Tag habe ich meine letzten religiösen Gefühle vorübergehend verloren.