Hagen. Rund 1000 Hagener wurden im NS-Reich zwangssterilisiert, schätzt der Historiker Rainer Stöcker. Einige bezahlten den Eingriff mit dem Tod.

Verzweifelt versuchten Gerda Oberbeck (17) und ihre Mutter, die wegen „angeborenen Schwachsinns“ angeordnete Zwangssterilisierung zu verhindern. Sie schrieben einen Brief an Hitler und baten um Rücknahme des Beschlusses. Doch die nationalsozialistische Bürokratie kannte kein Erbarmen. Dr. Scheulen, Leiter des Hagener Gesundheitsamtes, ließ die junge Frau im Juni 1939 von Polizisten auf ihrer Arbeitsstelle bei der Firma Ruberg & Renner abholen und ins Allgemeine Krankenhaus bringen. Dort öffneten die Ärzte ihre Bauchhöhle und zerquetschten die Eileiter.

So wie Gerda Oberbeck erging es zahlreichen Frauen und Männern während des Dritten Reiches in Hagen: Sie wurden, zumeist aufgrund „rassischer Minderwertigkeit“, unfruchtbar gemacht. Der pensionierte Lehrer und Historiker Rainer Stöcker hat über diese „vergessenen NS-Opfer“ jetzt ein Buch geschrieben, das in gleicher Weise die Gnadenlosigkeit der Nazi-Ideologie, die Dienstbeflissenheit von Ärzten und die Leidenschaftslosigkeit von Bürokraten offenbart, für die die Sterilisierungen in erster Linie ein verwaltungstechnisches und formaljuristisches Problem darstellten. „Mit ist es kalt den Rücken runtergelaufen“, gibt Stöcker einen Einblick in seine Empfindungen, während er sich mit dem Thema beschäftigte.

Dr. Scheulen, ehemals Leiter des Hagener Gesundheitsamtes.
Dr. Scheulen, ehemals Leiter des Hagener Gesundheitsamtes. © Stadtarchiv Hagen | Stadtarchiv Hagen

Stöcker hat 250 der nahezu 5000 im Stadtarchiv lagernden „Erbgesundheitsakten“ ausgewertet und hochgerechnet, dass rund 1000 Menschen in Hagen Opfer einer Zwangssterilisierung wurden. In seinem Buch führt er zahlreiche Einzelschicksale an wie das von Hans Hassel, der sich dem Eingriff (bei Männern wurden die Samenleiter durchtrennt) ebenso wie Gerda Oberbeck widersetzen wollte.

Mit Fangfragen in Falle gelockt

Als im März 1938 die Kriminalpolizei an seine Tür klopfte, trank er Gift aus einem Fläschchen. Statt ins Krankenhaus brachten ihn die Beamten in eine psychiatrische Klinik, wo er an den Folgen der Vergiftung starb.

Häufigster Grund für eine Zwangssterilisierung war „angeborener Schwachsinn“, hat Stöcker herausgefunden. Schon wer eine Hilfsschule – heutigentags in etwa vergleichbar mit einer Förderschule – besucht hatte, konnte ins Raster der Rasseideologen geraten. Bei sogenannten „Intelligenztests“ mussten die Betroffenen Allgemeinwissen beweisen, wurden aber auch mit Fangfragen („Was ist schwerer: ein Pfund Federn oder ein Pfund Blei?“) in die Falle gelockt. Wer aus armen Verhältnissen stammte, etwa ein uneheliches Kind hatte oder sonst wie negativ aufgefallen war, galt den Nazis per se als verdächtig.

Privatleben ausgeschnüffelt

Gerda Oberbeck wurde am helllichten Tage an ihrem Arbeitsplatz verhaftet.
Gerda Oberbeck wurde am helllichten Tage an ihrem Arbeitsplatz verhaftet. © Stadtarchiv Hagen | Stadtarchiv Hagen

Das städtische Gesundheitsamt spielte eine besonders unrühmliche Rolle, wenn es darum ging nachzuweisen, ob Gründe für eine „Unfruchtbarmachung“ (so der Nazi-Jargon) vorlagen. Volkspflegerinnen durchschnüffelten im Auftrag der Behörde das Privatleben der Verdächtigen auf erbbiologische Hinweise für einen Rassenmakel. „Selbst wenn in der Sippentafel keine Auffälligkeiten zu finden waren, konnte die Sterilisierung angeordnet werden mit der Begründung, die Krankheit habe wahrscheinlich ein paar Generationen übersprungen und sei erst jetzt wieder zum Ausbruch gekommen“, sagt Stöcker.

Wie in anderen Städten hatten die Nationalsozialisten in Hagen ein Erbgesundheitsgericht geschaffen, das auf Antrag des Gesundheitsamtes über eine Sterilisierung entschied. Auch Alkoholismus, schwere körperliche Missbildungen, Taub- oder Blindheit sowie Epilepsie konnten ein solches Urteil hervorrufen. „Die Verfahren waren willkürlich, die betroffenen Menschen der Laune der Machthaber ausgesetzt“, so Stöcker.

„Keine Gefahr der Fortpflanzung“

Elisabeth Böhme landete nach einer Grippe, in deren Folge sie gestürzt und kurzzeitig bewusstlos gewesen war, wegen „erblicher Fallsucht“ vor den Schranken des Gerichts. Obwohl in ihrer Familiengeschichte keine Erbkrankheiten vorlagen, entging sie der Sterilisierung nur mit dem Hinweis, dass in ihrem Alter – die Hagenerin war 42 – „keine Gefahr der Fortpflanzung“ bestehe.

Opferbiographien

Das Buch „Vergessene Opfer. Zwangssterilisationen in Hagen“ von Rainer Stöcker wird am Montag, 7. Oktober, um 18 Uhr im Rathaus an der Volme vorgestellt.

Schüler des Rahel-Varnhagen-Kollegs stellen an dem Abend Opferbiographien vor.

Das Buch ist für zwölf Euro in den Hagener Buchhandlungen erhältlich.

Gerda Oberbeck hatte weniger Glück. Wenige Tage nach Festnahme und Operation im AKH starb sie an den Folgen des Eingriffs. Als Todesursache gab Amtsarzt Dr. Scheulen Lungenentzündung an.