Hagen. Trotz ihrer schweren Muskelerkrankung lebt Nicole Andres aus Hagen in den eigenen Wänden. Sie hat Angst, dass sich das durch ein Gesetz ändert.
Die Kraft der Muskeln von Nicole Andres (29) ist für immer erloschen. Seit 15 Jahren kann die junge Frau nur noch ihren Kopf bewegen, seit zehn Jahren muss sie rund um die Uhr beatmet werden. Die spinale Muskelatrophie ist eine angeborene, unheilbare Krankheit, man sollte meinen, sie raubt einem den Lebensmut, aber dann kennt man Nicole Andres nicht: „Ich bin ein lebensfroher, aktiver Mensch. Mir ist wichtig, dass ich als selbstbestimmte Frau rüberkomme.“
Derzeit ist Nicole Andres ziemlich wütend. Wütend auf Bundesgesundheitsminister Jens Spahnund dessen Mitarbeiter, weil die ein neues Reha- und Intensivpflegestärkungsgesetz auf den Weg gebracht haben. Darin ist u. a. vorgesehen, dass Beatmungspatienten wie Nicole Andres nur noch in Ausnahmefällen zu Hause betreut werden dürfen. Stattdessen sollen sie in einer Pflegeeinrichtung oder Intensivpflege-Wohneinheit untergebracht werden. Spahn verspricht sich davon eine qualitätsvollere Versorgung der Betroffenen bis hin zur Entwöhnung von den Beatmungsgeräten.
Eigene Wohnung im Blumenviertel
Doch für Nicole Andres würde das Gesetz, wenn es wirklich verabschiedet werden sollte, das Ende ihres selbstbestimmten Lebens bedeuten. Die Hagenerin hat eine eigene Wohnung in Hagen und Anspruch auf außerklinische Intensivpflege in den eigenen vier Wänden. „Das bedeutet, dass ich das Recht habe, durchgehend von einem Intensivpfleger betreut zu werden“, sagt sie. Ohne diese Begleitung wäre es ihr nicht möglich, daheim zu leben geschweige denn ihrer Arbeit in einer Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung in Dortmund nachzugehen. „Ich finde diesen Gesetzentwurf furchtbar“, sagt sie: „Ich möchte nicht in eine Einrichtung ziehen müssen. Ich möchte mein Leben behalten.“
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Auch wenn die Kraft ihrer Muskeln erschlafft ist, so ist Nicole Andres doch eine Kämpferin. Am Hauptbahnhof in Düsseldorf hat sie über Facebook eine Demonstration gegen das geplante Gesetz organisiert, an der 150 Menschen teilgenommen haben.
Brief an den Minister
Vor allem aber hat sie in einem Brief an den Minister geschrieben: „Sehr geehrter Herr Spahn“, heißt es darin: „Die Beatmung ermöglicht mir ein hohes Maß an Lebensqualität und gesundheitlichem Wohlergehen. Dank der ambulanten Versorgung durch Pflegekräfte und Angehörige ist es mir möglich, ein glückliches Leben zu führen. Ich habe studiert, bin berufstätig, habe einen eigenen Haushalt, führe Beziehungen und lebe mein Leben wie Sie es auch tun.“ Das alles – ihren Wohnort, ihre Familie, ihren Job, ihre Hobbys und ihre allgemeinen Lebensverhältnisse – sei sie gezwungen aufzugeben, wenn das neue Gesetz Wirklichkeit werde.
Vor ihrer Beratungstätigkeit war Nicole Andres wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bochumer Zentrum für Disability Studies und hat sich in dieser Zeit intensiv mit der Historie der deutschen Behindertenbewegung und der UN-Behindertenrechtskonvention beschäftigt.
Verstoß gegen die Verfassung
Spahns Gesetzentwurf widerspreche dieser Konvention, wonach alle Menschen das Recht haben zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen und nicht gezwungen sind, in besonderen Wohnformen zu leben. Und in Artikel 3 des Grundgesetzes werde ausdrücklich festgehalten, dass niemand aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden darf. „Das Vorhaben des Ministers verstößt gegen die Menschenrechte und die deutsche Verfassung“, sagt Nicole Andres.
Ministerium will stets den Einzelfall prüfen
Das Bundesgesundheitsministerium in Berlin erklärte auf Anfrage unserer Zeitung, das Schreiben von Nicole Andres liege vor und werde selbstverständlich beantwortet. Die Antwort solle unmittelbar an Frau Andres erfolgen.
Das geplante Gesetz sehe immer eine Prüfung der Zumutbarkeit im Einzelfall vor. Bei der Entscheidung über die Zumutbarkeit müssten die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände berücksichtigt werden.
Neben der Wut ist Angst aufgekeimt in Nicole Andres – die Angst, dass sie ihr hart erkämpftes, selbstbestimmtes Leben in ein paar Jahren aufgeben muss. Mag sein, dass sie nur noch ihren Kopf bewegen kann. Aber ihre Gedanken sind klar. Und sie wird kämpfen.