Hagen. Das Theater Hagen bringt mit Purcell und Händel Barockoper und Tanztheater zusammen. Wir erklären, warum das Experiment gut funktioniert.
Die Kombination von Ballett und Oper liegt aktuell im Trend. Auch das Theater Hagen fusioniert die Gattungen. Allerdings nicht, in dem es Tanz und Gesang verschränkt, sondern, indem eine einzige Geschichte hintereinander auf zwei Ebenen erzählt wird: Dido und Aeneas als Musiktheater, wie Henry Purcell es komponiert hat und danach als Handlungsballett zur Wassermusik von Georg Friedrich Händel. Das klingt kompliziert, erweist sich aber als interessantes Experiment über die Erzählmacht betörend schöner Musik. Das Publikum bedankt sich für dieses besondere Abenteuer mit viel Beifall im Stehen.
Die Barockoper zehrt von überlebensgroßen Emotionen. Im 17. Jahrhundert steckt die Gattung Oper ja noch in den Kinderschuhen, und man muss begründen, warum Menschen auf der Bühne überhaupt singen sollen. Der Liebeskummer liefert diese Legitimation. Der britische Komponist Henry Purcell ist ein Meister im Vertonen von Sehnsucht und Trennungsschmerz. Sein „Dido und Aeneas“ inszeniert der Hagener Intendant Francis Hüsers halbszenisch als Parabel der bräutlichen Witwe, für welche die Liebeserfahrung mit Aeneas so existenziell ist, dass sie sie nicht überlebt.
Das Stück wird großartig gesungen, Cristina Piccardi flankiert als Belinda/Geist mit ihrem strahlenden Koloratrursopran die vielfarbige Fülle von Veronika Hallers Sopran; Die Hagener Sängerin gestaltet Didos Lamento „When I am laid in earth“ mit dem berühmten Passus duriusculus im Generalbass als die Musterklage aller verlassenen Frauen. Kenneth Mattice ist als Aeneas ein Abenteurer, der an hübschen Mädchen nicht gut vorbeikommt und sich dennoch zwischen Pflicht und Neigung zerreißt. Das Unterhaltungsbedürfnis des Barockzeitalters bedient die unheimliche Hexenszene mit Marilyn Bennett als rothaariger Oberhexe.
Die Bühne wird zur Arena
Steht bei Purcell Dido mit ihrer Gefühlswelt im Vordergrund, spiegelt Choreograph Francesco Nappa den Aeneas-Mythos in Händels Wassermusik. Jetzt kommen antikisierende Kostüme ins Spiel, die Tänzer klettern aus dem Orchestergraben auf die Bühne wie in eine Arena. Wagenlenken, Zweikämpfe und Segeln werden fast schon pantomimisch dargestellt. Francesco Nappa gelingt es, Elemente barocker Ästhetik in zeitgenössisches Tanztheater zu übersetzen und dabei die unterschiedlichen Stimmungen der Tanzsätze aus der Wassermusik auszuloten.
Die überbordende Verzierzungslust der Barockmusik findet ihre Entsprechung in comichaft überzeichneten Bewegungen, dem Flattern der Hände, dem Entengang der Füße. Daneben steht tänzerische Hochleistungsartistik sinnbildlich für die Hochleistungs-Vokalkunst, die der Barock erstmals entwickelt. Die Hagener Compagnie leistet Außergewöhnliches, denn die zahlreichen Sprung- und Hebefiguren sind so verblüffend und kunstvoll, dass das Publikum aus dem Staunen nicht herauskommt. Goncalo Martins da Silva tanzt den Aenas zum Beispiel in einer Szene, indem er kopfüber an einer Leiter hängt.
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Im Zentrum der Choreographie steht allerdings das Liebesduett zwischen Aeneas und der bezaubernden Ana Isabel Casquilho als Dido. Das wird in einem Wasserbecken auf der Hinterbühne getanzt - mit traumverlorenen Bildern. Zum poetischen Höhepunkt wird daneben die ausgedehnte Flötenarie mit Soloflötistin Annette Kern. Am Ende sind es nicht die Pauken und Trompeten, die den Helden zu neuen Ufern geleiten: Gonzalo Martins da Silva springt ins Wasserbecken und taucht ab.
Das Orchester hat Spaß
Das Orchester hat bei dieser Produktion auf dem halb hochgefahrenen Graben richtig viel Spaß und spielt erstklassig. Barockmusik bringt eigene Anforderungen an die Klanggestaltung mit sich. So verwenden zum Beispiel die Streicher ein betont schlankes Vibrato, und der Satz wird von einem Generalbass-Ensemble mit Gambe, Theorbe und Cembalo grundiert. Kapellmeister Rodrigo Tomillo dirigiert ohne Stab und entlockt Purcell und Händel mit konzentrierter Leidenschaft eine so vorwärtstreibende und farbenreiche musikalische Energie, die direkt auf die Bühne überspringt.
Über die Grenzen kommen
Ansonsten muss auch das Publikum in gewisser Hinsicht über seine Grenzen kommen, zumal Barockoper heute leider als Nischentheater gilt. Die Tanzfreunde hören eine Stunde lang Gesang, und die Freunde der Alten Musik lassen sich auf das Abenteuer einer oft illustrativen Visualisierung der musikalischen Affekte ein.
Passus duriusculus: Mit Passus duriusculus bezeichnet man eine absteigende, mit Dissoanzen angeschärfte Tonfolge, die musikalisch Klage und Schmerz ausdrücken soll. Johann Sebastian Bach setzt die Figur in der h-Moll-Nesse zum Beispiel im „Crucifixus“ ein.