Hagen. . Ein 14-Jähriger tötet in Wenden einen 16-Jährigen. Der Fall erschüttert die Region – auch die Mordkommission in Hagen. Ein seltener Einblick.

Fünfte Etage des Polizeipräsidiums Hagen. Nach mehreren Fragen und genau so vielen Antworten muss Ingo Scheid einen Augenblick innehalten. Der Leiter der Mordkommission „Dassis“ atmet tief aus. Dann sagt er: „Wissen Sie, letztlich arbeiten hier Menschen. Auch Mütter und Väter.“ Scheid und sein Team arbeiten aktuell an dem Fall, bei dem ein 14-Jähriger einen 16-Jährigen im sauerländischen Wenden erwürgt haben soll. Wegen nicht erwiderter Liebe. Der Fall erschütterte die ganze Region. Es ist ein Fall, der zeigt, wie nicht nur die Gemeinde Wenden, die Familien des Opfers und des geständigen Täters, sondern auch die Ermittler, die ihre Arbeit vom Standort in Hagen aus machen, an eine emotionale Grenze geraten.

Polizei ist Teil der Emotionalität

Normalerweise erfahren Journalisten aus dem Innenleben von Mordkommissionen nichts. Das kann taktische Gründe haben. Vor allem aber haben Mordkommissionen auch eine Verantwortung gegenüber Opfern, ihren Familien, aber auch gegenüber Tätern. Und gegenüber dem sozialen Gefüge in einer kleinen Gemeinde wie dem sauerländischen Wenden, über dem große Trauer liegt.

„Darüber sind wir uns absolut bewusst“, sagt Ingo Scheid. Der Kriminalbeamte leitet die „MK Dassis“ (der Name der Kommission lehnt sich an einen Straßennamen in Wenden an). Scheid ist ein erfahrener Ermittler, Jahrzehnte im Dienst. Doch auch er sagt: „Dieser Fall berührt die Menschen in einer Weise, wie es nur ganz selten in unserem Beruf passiert. Und deshalb ist auch die Polizei ganz unweigerlich Teil dieser Emotionalität.“ Die Mordkommission tut in sensiblem Maße, wonach die traurige südwestfälische Öffentlichkeit fragt und die Betroffenen sich sehnen: Sie gibt erste Antworten und schafft nüchterne Transparenz.

Auf dem Schulhof der Gesamtschule in Wenden hatten zahlreiche Trauernde Anfang November Kerzen und Blumen niedergelegt. Der tragische Fall hat die Gemeinde erschüttert und zutiefst bewegt.
Auf dem Schulhof der Gesamtschule in Wenden hatten zahlreiche Trauernde Anfang November Kerzen und Blumen niedergelegt. Der tragische Fall hat die Gemeinde erschüttert und zutiefst bewegt.

Sechs Mitglieder der Mordkommission sowie Kollegen des LKA und der Olper Polizei bearbeiten den Fall, der Ende Oktober Wenden erschüttert. Ein 16-jähriger stirbt. Mutmaßlich erwürgt durch seinen 14-jährigen Verehrer. Nachdem das Opfer als vermisst gemeldet wird, gerät der 14-Jährige schnell in den Kreis jener, die etwas über seinen Verbleib wissen könnten. „Er hat lange standgehalten“, erinnert sich Ingo Scheid an die ersten Vernehmungen des 14-Jährigen, der in seiner Wahrnehmung die Statur eines 18-Jährigen hat. Die Jugendlichen hatten eine Gartenbau-AG gemeinsam verlassen. Der 14-Jährige erklärte, mit dem 16-Jährigen auf einer Bank hinter einem Sporthotel gesessen zu haben. Man habe sich gestritten. „Um einen Kuss“, wie Ingo Scheid erklärt. Dann sei das spätere Opfer, das aus Scheids Sicht nach bisherigen Erkenntnissen keine Anzeichen für Homosexualität gezeigt hat, allein in Richtung des Ortsteils Vahlberg gelaufen.

14-Jähriger verstrickt sich in Widersprüche

Offenbar verstrickt sich der 14-Jährige in Widersprüche. „Es gab plötzlich minimale Abweichungen in seinen Aussagen. Und der Einsatz von Rettungshunden bestätigte seine Versionen und den möglichen Aufenthaltsort des 16-Jährigen nicht“, so Scheid. Jeder Stein wird umgedreht, Teiche werden durchwatet – dann der Fund der Leiche. „Wir sind sehr lange mit einem Rettungsgedanken unterwegs gewesen“, erklärt Scheid, „es war nicht kalt genug, um draußen zu erfrieren.“ Doch da war das Opfer schon einen Tag lang tot. In die laufenden Vernehmungen transportiert die Polizei den Leichenfund. Jetzt lenkt der 14-Jährige ein. Er gesteht.

Ingo Scheid ist Leiter der Mordkommission „Dassis“.
Ingo Scheid ist Leiter der Mordkommission „Dassis“.

„Wir haben uns sehr gewundert und tun das teilweise immer noch“, meint Scheid. „Wir waren erschrocken, wie stark und systematisch er lügentechnisch durchgehalten hat. Das ist extrem selten.“ Die ersten Vernehmungen des geständigen Täters hatte Scheid extra von einer weiblichen Kollegin durchführen lassen, um eine Chemie zu ihm zu entwickeln. In einem Büro der Olper Polizei. Mit Getränken und Verpflegung und höchst genauer Dokumentation. Vernehmungen dieser Art werden nicht – wie im TV oft vorgegaukelt – per Video oder Audio aufgezeichnet. Eine Protokollantin schreibt vielmehr exakt auf, was gesagt wird. „Auch wenn er sich geständig zeigt: Wir müssen so lückenlos wie möglich ermitteln und dem Gericht viel Hintergrund und Informationen liefern“, sagt Scheid. Es geht nunmehr um die entscheidende Frage, ob es sich um Mord oder Totschlag gehandelt hat. Handelte der Täter aus niederen Beweggründen oder handelt es sich hier um ein Tötungsdelikt ohne Mordmerkmale? Hatte er die Tat geplant oder im Affekt gehandelt?

Ermittler müssen behutsam und sensibel sein

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Über den Ermittlungen, den Recherchen, den Vernehmungen und den Rekonstruktionen liegt in diesem Fall ein schwerer Schleier der Gefühle. Da ist die brutal-rationale Seite der Ermittlungsarbeit: Stellwände in Scheids Büro im fünften Stock des Polizeipräsidiums dokumentieren den Fortschritt. Der Tat-Tag auf einer Flipchart in Stunden zerlegt. Handy-Auswertungen laufen, Luftbilder werden aufgehängt, Menschen befragt.

Es ist wie ein 1000-Teile-Puzzle, dessen Rahmen schon liegt, aber das Motiv des Bildes ist noch nicht erkennbar. „Und wir müssen behutsam und sensibel sein“, sagt Scheid. Die Eltern des Opfers wurden nach Überbringung der Todesnachricht mittlerweile auch befragt. Kontakt in die Familie gibt es ganz behutsam zudem über einen Patenonkel des Bruders des Opfers. Der Patenonkel ist Polizist und agiert als ruhig filterndes Sprachrohr.

Extrem schwieriger Fall für Familienmenschen

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Als Vater, der er selber sei, sei es als Ermittler in diesem Fall extrem schwierig. „Mit dem Tod haben wir hier jeden Tag zu tun, aber wenn ein so junger Mensch auf diese Weise stirbt, dann berührt uns das hier. Für uns ist die Seite der Betroffenen schlimm zu betrachten. Die können doch gar nichts dafür. Von diesen Emotionen können wir uns hier nicht freimachen, aber sie dürfen auch nicht dafür sorgen, dass wir Fehler machen und wir beispielsweise für jemanden zu schnell Partei ergreifen“, sagt Ingo Scheid. Gleichzeitig dürfe man Trauernde als Polizei jetzt nicht überrumpeln, was zu Aussagen führen könnte, die die Betroffenen eigentlich so nie getätigt haben wollen.

Vieles ist anders in diesem Fall für die Ermittler. Auch die eher dörfliche Struktur Wendens spielt dabei eine große Rolle. Am Fundort der Leiche und bei den Sucharbeiten waren beispielsweise zwangsläufig Kräfte der Freiwilligen Feuerwehr im Einsatz, wodurch die Gefahr eines vorschnellen Dorfgesprächs extrem stieg. „Die Todesnachricht musste also sehr schnell überbracht werden“, sagt Ingo Scheid.

Eine Rolle spielt auch, dass an diesem Fall besonders sichtbar wird, wie sehr sich das Leben von einem auf den anderen Tag verändern kann. Auch der Täter ist als Person in sich noch ein Rätsel für die Beamten. Seine Kühle, seine Abgeklärtheit in den Vernehmungen, sein gesamtes Auftreten, all das legt nahe, dass in diesem Fall dringend ein psychologisches Gutachten erstellt werden muss. Doch der Gutachter, der einen so jungen Mann einschätzen kann, muss erst noch gefunden werden.

Warum hat der den Jugendlichen getötet?

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Und natürlich bleibt da diese große menschliche Frage, die sich auch die Mordkommission stellt. „Wenn der 14-Jährige irgendwie sauer war oder seine Liebe nicht erwidert wurde, warum hat er dem Opfer nicht einfach eine gescheuert oder ihn angebrüllt? Warum musste der 16-Jährige sterben?“, fragt Ingo Scheid. Vom zunächst geständigen Jugendlichen selbst ist das nach aktuellem Stand nicht zu erfahren. Nach seinem Geständnis hat ein erfahrener Strafverteidiger das Mandat übernommen.

Er schweigt nun. Klar ist für die Ermittler aber, dass am Tatort dermaßen viele Spuren gesichert wurden und auch an der Leiche des 16-Jährigen genug Material gefunden wird, dass es seine Tat auch wirklich beweisen könnte. „Daran hegen wir keinen Zweifel“, sagt Scheid, „wenn wir nun alle Zeugen, unter denen viele Kinder und Schüler sind, befragt haben, werden wir Theorien aufstellen. Wir werden auch hier ein Gesamtbild erstellen, das schlüssig ist.“

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Ein Protokoll: Gemeinde Wenden fällt in tiefe Trauer

Binnen weniger Tage fiel die Gemeinde Wenden Ende Oktober und Anfang November in tiefe Trauer. Ein kurzes Protokoll der Ereignisse.

31. Oktober: Die Leiche des toten 16-Jährigen wird in einem Waldstück im sauerländischen Wenden gefunden. Die Mordkommission „Dassis“ wird eingesetzt. Wenige Stunden vor der Todesnachricht hatte sich die Polizei mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit gewandt. Der Teenager sei nach einem Streit mit einem Freund nicht nach Hause zurückgekehrt. Die Schule hatte er zuvor geschwänzt.

1. November: Die Polizei nimmt eine Person fest. Auf einer Pressekonferenz wird erklärt, dass es sich um einen 14-jährigen Mitschüler handelt. Er habe gestanden, den Mitschüler in der Nähe des Schulgeländes erwürgt zu haben. Es habe Gegenwehr des Opfers gegeben, so die Ermittler. Der 14-Jährige sei jedoch körperlich überlegen gewesen und habe eher die Statur eines 16-Jährigen gehabt, während das Opfer eher schmächtig wie ein jüngeres Kind gewesen sei. Vom eigentlichen Tatort habe der 14-Jährige den Toten zu einem anderen Ort im Wald in der Nähe der Schule getragen und dort abgelegt. Anderen Schülern, die den 14-Jährigen später an der Schule sahen, fiel danach auf, dass seine Kleidung verdreckt und durchnässt war.

5. November: Eine Woche nach dem Tod eines 16-Jährigen in Wenden nehmen Angehörige, Freunde und Bürger Abschied von dem Schüler. Auch viele Mitschüler des Opfers sind da und begleiten das Opfer auf seinem letzten Weg. Mit Unterstützung durch Psychologen hatte der Unterricht an der Gesamtschule Wenden mittlerweile wieder begonnen.