Hagen. . Das Theater Hagen erlöst in „Simon Boccanegra“ den Komponisten Verdi von sich selbst. Wir verraten, warum das ein Tabubruch ist

Bekanntlich war Giuseppe Verdi ja ein Komponist, der seine Opern nicht von A nach B schreiben konnte. Diesen Notstand will, ja muss das Theater Hagen jetzt endlich heilen. Die sehr junge Regisseurin Magdalena Fuchsberger erlöst Verdis „Simon Boccanegra“ daher von seinem Finale und zeigt den Schlussakt schon als Prolog.

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Ironie beiseite: Bei einer derartigen Verletzung des Kunstcharakters eines Werks sollte seitens der Regie natürlich etwas kommen. Aber Fehlanzeige. Der Hagener „Simon Boccanegra“ ist eine schön gesungene Produktion, doch die Inszenierung selbst ist eher provinziell. Es wird viel auf dem Boden herumgekrochen. Aus dem Umfeld des Regieteams gibt es im Publikum dafür lauteste Bravos, was wiederum Buhrufe provoziert. Das Haus war so leer wie seit Jahrzehnten nicht bei einer Premiere in Hagen.

Machtgier und Machterhalt

Verdi hat mit dem „Simon Boccanegra“ eine Männeroper komponiert, die sich den Erwartungen verweigert, dass es im Musiktheater um Liebe gehen muss. Der Komponist untersucht hier die Dynamik von Machtgier und Machterhalt. Es ist ein Vorurteil, dass die Handlung unverständlich sei. Im Vergleich zu „Die Macht des Schicksals“ oder der „Der Troubadour“ ist der Plot sogar schlicht.

Auch die Österreicherin Magdalena Fuchsberger erwartet von einer Oper offenbar eher Liebesdramen als die Intrigen, welche Strippenzieher, Aufrührer und graue Eminenzen verfeindeter Lager spinnen. Sie begreift, dass die Geschichte von einem inneren Kreislauf lebt – der junge Rebell liebt eine Tochter des Establishments, was zur privaten Katastrophe führt. An der Macht, muss er erleben, wie seine Tochter einen jungen Rebellen liebt. Was zur privaten Katastrophe führen könnte, wenn nicht . . .

Aber es interessiert die Regisseurin nicht, wie Verdi versucht, in seinem Hoffnungsträger Simon Boccanegra dieses Muster aus Hass und Rache zu durchbrechen. Daher legt sie den Fokus nicht auf die Mechanik der Macht, sondern sucht die Dominanz des Patriarchats. Weil das Stück solches nicht hergibt, wird am Anfang und Ende die Schlussansprache aus Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“ zitiert. Diese Sicht verkleinert die Figuren, besonders den Paolo, den Bariton Kenneth Mattice als raffinierten Königsmacher singt.

Die Drehbühne von Monika Biegler spiegelt das Hamsterrad des Herrschens. Sie ist in Zellen unterteilt, alle klaustrophobisch identisch möbliert mit Trophäen des effizienten Führens, mit Schreibtisch, Stuhl, Zweisitzer, Röhrenfernseher und Marienbild. Über dem Schreibtisch hängt eine Flinte, in der Wand steckt ein Messer. Damit werden verschiedene Zeitebenen vermessen, die Handlung könnte in einer Clan-Familie ebenso spielen wie in einer sozialistischen Diktatur oder einem global agierenden Konzern.

Revolutionsmusik

GMD Joseph Trafton und die Hagener Philharmoniker holen den „Simon Boccanegra“ mit Leidenschaft aus dem Graben. Revolutionsmusik wird zu Trauermarsch und umgekehrt. Herzklopfen, Angst und Wut verdichten sich zu einem furiosen Politthriller. Trafton hat auch keine Scheu, das hervorragend disponierte Orchester richtig Gas geben zu lassen. Der Chor spielt im Prinzip die Hauptrolle, er macht Druck auf der Straße, er stellt die Schlägertruppen und die Apparatschiks.

Für Veronika Haller liegt die Partie der Amelia/Maria nicht optimal, aber die Sopranistin gibt ihr Bestes, um die Emanzipation dieser Unschuld zu zeichnen. Xavier Moreno singt den Adorno mit großer, farbenreicher Tenorstimme als Charakter, der so engstirnig ist wie das System, gegen das er kämpft.

Skrupelloser Herrscher

Bariton Kwang-Keun Lee ist als Simon Boccanegra ein skrupelloser Herrscher mit Gewissen. Bass Dong-Won Seo gibt den Fiesco als fiesen Intriganten im Hintergrund.

Am Ende schafft Verdis Boccanegra es, seinem jungen Feind zu verzeihen und seinen alten Feind zu versöhnen. Damit sollte die Ereigniskette unterbrochen sein. Nicht so in Hagen. Hier hört das Stück vorher auf, mit dem zweiten Akt und einem neuen Aufstand.

Warum greift eine Regisseurin so brutal in ein Kunstwerk ein? Und warum rät der Intendant nicht zur Vorsicht? Die Antwort lässt sich im rundum-subventionierten deutschen Theatersystem finden. Das erzeugt eine gewisse Wohlstandsverwahrlosung, ein Vakuum, in dem nicht die gut erzählte, werktreue Geschichte Furore macht, sondern der Tabubruch, die Originalitätssucht. So ärgerlich dies ist, der Hagener „Simon Boccanegra“ hat wegen der wunderbaren Sänger und der großartigen Orchesterleistung ein Publikum verdient.

www.theaterhagen.de