Hagen. . Die syrische Familie Alojayli ist vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen. Eine Begegnung mit Menschen, die dem Grauen entkommen sind.

Die kleine Aya ist fünf Wochen alt und besitzt praktisch nichts. Keinen Maxi-Cosi, keine Babywippe, nur ein paar Strampler und einen gelben Schlafsack. Den hat ihr das Allgemeine Krankenhaus Hagen bei der Geburt geschenkt. Die süße Aya hat trotzdem so viel mehr als andere Babys in Syrien: Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten und die Oma, die alle leben. Bis auf den Großvater. Der saß in der Heimatstadt Rakka in einem Bus, als die Bomben aus Assads Flugzeugen fielen.

Sieben Kinder hat Ayas Großmutter Azezza Alojayli erzogen. Sie sind alle etwas geworden: Arzt, Anwältin, Literaturwissenschaftler, Lehrer, Gartenbauingenieurin. Ein Sohn und eine Tochter waren noch an der Uni, als der Vater, Universitätsprofessor für arabische Literaturwissenschaften, bei dem Angriff starb. Da wusste Frau Azezza, dass sie mit den Ihren ins Exil gehen muss. Bevor weitere Bomben fallen. Bevor Assads Gesinnungspolizei eins der Kinder ins Gefängnis steckt. Bevor die IS-Terroristen ihre Mädchen totschlagen.

Tala fürchtet sich vor Flugzeugen

Mit ein bisschen Glück wird Baby Aya nie Bombenangriffe erleben. Anders als ihre drei Geschwister. Tala (5) stellt mit den Händen Gewehre im Anschlag nach, so hat sie das gesehen in den umkämpften Straßen von Rakka, und sie fürchtet sich vor Flugzeuglärm. Sie begreift noch nicht, dass sie in Sicherheit ist, in der kleinen Wohnung in Hagen, die vor Sauberkeit blitzt. Sie wird an der Volme aufwachsen, nicht am Euphrat. „Sie ist immer noch traumatisiert“, sagt ihr Onkel Hussam.

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Farah ist die älteste Tochter von Frau Azezza. Wie soll sie einer Journalistin, die nur Frieden und Wohlstand kennt erklären, was der Krieg mit einem macht. „Was wissen Sie über die Situation in Syrien?“, fragt sie. Was weiß man also über die Situation in Syrien, in Rakka, der Stadt, in der Christen und Muslime jahrtausendelang friedlich zusammenlebten und in der jetzt die IS-Terroristen das Regiment führen, während Christen und Muslime um ihr Leben rennen? Farah findet gar nicht schnell genug Worte. Die IS käme Assad nur zu gelegen, lenke den Westen ab von seiner Verfolgung politisch Andersdenkender, von der Unterdrückung der Meinungsfreiheit. In Rakka dürfte sie sich mit ihrem Kopftuch nicht mehr auf die Straße wagen, da müsste sie nun den Ganzkörperschleier tragen. „Das ist nicht islamisch“, betont Farah leidenschaftlich. „Die machen alles kaputt, und der Westen tut nichts, schaut zu.“

Die Familie lernt fleißig Deutsch

Farah ist eine selbstbewusste Muslima, die sich zuhause als Anwältin auf Familienrecht spezialisiert hat. In ihrer schönen Eigentumswohnung in Rakka hausen nun Freischärler, sie wurde enteignet. Ob sie in Deutschland je als Juristin wird tätig sein können, steht in den Sternen.

FlüchtlingeWie ihre Geschwister lernt Farah mit Nachdruck Deutsch. Vier Stunden jeden Tag, sechs Tage in der Woche. Das beschäftigt den Kopf. Die Seele aber ist noch im Krieg. Farah schläft nicht gut. Nachts drehen sich die Gedanken. Sie und ihre Geschwister suchen dringend Arbeit. Sie wollen keinem auf der Tasche liegen. Es fällt ihnen schwer, Geld vom Staat anzunehmen. „So viele Probleme“, sagt Farah. Nachts scheinen sie unüberwindlich. Dann kommen die Kopfschmerzen.

Bildung ist der Schlüssel

Ayas Geschwister Solaf (7) und Sofian (6) werden nach den Sommerferien eingeschult. Das macht ihren Vater Hussein ganz bedrückt vor Sorge. Als Lehrer weiß er, wie wichtig Bildung ist. Aber er kann nichts, überhaupt gar nichts tun, um seinen Kindern zu helfen. Hussein ist mit seiner Familie erst seit April in Deutschland. Ihm wurde noch kein Deutschkurs zugeteilt.

„Ich könnte soviel über die Situation in Syrien sagen, aber ich habe keine Worte“, so bringt sein Bruder Ahmad das Dilemma auf den Punkt. Ahmad ist schon im Kurs, spricht ein paar Brocken Deutsch und hat sogar zwei Universitätsdiplome in der Tasche, eins in Literaturwissenschaften und eins in Jura. Von Syrien aus hat er für eine arabische Zeitung in London Artikel verfasst. Das geht in Hagen nicht mehr, er besitzt keinen Computer, könnte den Internetanschluss nicht bezahlen, und die Zeitung würde auch nicht wissen wollen, was syrische Flüchtlinge in Deutschland erleben. „Wir danken dem deutschen Staat für seine Hilfe“, diesen Satz hat er vorbereitet, und es ist ihm wichtig, dass die Reporterin die Worte notiert.

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Die Familie besteht aus Intellektuellen, Akademikern, die ihr Leben der Literatur, der Lehre und dem Engagement für die Anderen gewidmet haben. Dann kam der Bürgerkrieg. Nun sind sie nicht nur heimatlos, sondern auch sprachlos. Das macht mehr zu schaffen als die Armut.

Großmutter Azezza träumt von einem kleinen Stück Garten. Da könnte sie ein paar Reihen Kartoffeln setzen, vielleicht sogar Tomaten ziehen. Das würde der Familienkasse guttun und vor allem der Seele. Beate Sobiesinsky-Brandt hat bei der Stadt Hagen angefragt wegen eines Stückchens Erde. Doch die wenigen kommunalen Grabländer sind heiß begehrt, da ist nichts frei. Eine Schrebergarten-Parzelle zu pachten, das wäre so ein kleiner Traum vom Ankommen in der neuen Heimat.

Viele Menschen unterstützen die Familie

„Beate ist meine Tochter“, lobt Frau Azezza. Denn die Flötistin im Philharmonischen Orchester Hagen engagiert sich ehrenamtlich für die Flüchtlinge. Sie unterstützt die syrische Familie bei Behördengängen und in allen Belangen des Alltags. Warum tut sie sich das an? „Mir war schon immer bewusst, dass es uns sehr gut geht und dass wir durch den Zufall, in Deutschland geboren zu sein, doch recht privilegiert sind. Es ist mir auch ein wichtiger Punkt in der Erziehung unserer Kinder gewesen, dies immer wieder anzusprechen und bewusst zu machen“, sagt die Musikerin.

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Seit der jüngste Sohn nach dem Abitur aus dem Haus ist, hat Beate Sobiesinsky-Brandt wieder mehr freie Zeit und beschloss, sich ein neues Betätigungsfeld aufzutun. Die Flötistin möchte ihr Engagement nicht besonders herausgestellt wissen, sie findet es selbstverständlich, sich zu kümmern, wenn jemand in Not ist. „Und wir kennen so viele Leute in Hagen.“ Da finden sich gebrauchte Kinderkleidung ebenso wie ausgemusterte Möbel oder kräftige Arme, wenn etwas geschleppt werden muss.

Die Mutter eines Orchesterkollegen hat der syrischen Familie sogar einen Herd gekauft. Die ist dankbar für so viel Unterstützung. Doch sie macht sie gleichzeitig verlegen. Denn sie wollen keinesfalls als Bettler gelten. Vor einigen Wochen gab Beate Sobiesinsky-Brandt ein Konzert. Die syrische Familie saß vollzählig im Publikum. Es war das erste normale Erlebnis in Hagen. Fast wie früher, als man in Rakka zum Bildungsbürgertum gehörte.

Versuche, sich zurechtzufinden

Deutschkurs, Behördengänge und die Versuche, sich im fremden Lebensrhythmus zurechtzufinden, prägen den Alltag der Familie. Ganz normale Vorgänge wie die Geburt von Aya oder die Einschulung der Kinder werden, auch wenn die Ämter alle sehr hilfsbereit sind, zu bürokratischen Marathons, weil es so lange dauert, bis man begreift, wie die Dinge funktionieren. Es sind die Kleinigkeiten, die einen im Exil aufreiben. Dass man aus dem Kran bedenkenlos trinken kann, war den Alojaylis zum Beispiel unbekannt. Leitungswasser in Deutschland ist sauber, das versicherte ihnen erst Beate Sobiesinsky-Brandt.

Die kleine Aya schlummert selig in den Armen ihrer Mutter. Inzwischen hat sie sogar einen Kinderwagen, den haben türkische Nachbarn gespendet. Aya weiß nicht, dass sie wochenlang eine Nicht-Person war und damit ein Symbol für die Situation vieler Flüchtlinge. Denn als ihr Vater sie anmelden wollte, sagte der Standesbeamte, das sei nicht möglich, da das Neugeborene keinen syrischen Pass habe. An einen syrischen Pass kommt der Regimekritiker Hussein nicht. Auch in diesem Fall hat Beate Sobiesinsky-Brandt geholfen.

Alle Teile der Serie finden Sie gesammelt auf der Spezialseite "Fluchtpunkte".